Roter Teppich für Gaza
Der rote Teppich residiert in einem eigenen Zimmer, das ist man ihm wohl schuldig. Khalil al-Mozayen, der nebenan sein Büro hat, öffnet die Tür und setzt sich mit dem Laptop in der Hand gleich mitten drauf auf die Filzbahnen.
"120 Meter lang", sagt er mit Stolz. Denn an diesem Teppich, der nicht gerollt und nicht gereinigt in einem unmöblierten Raum im 15. Stock eines schäbigen Bürohauses auf dem Fußboden lagert, haftet reichlich Hoffnung: darauf, dass das Leben wieder leichter wird, dass sich die Tore zur Welt wieder öffnen - oder zumindest, dass es bald wieder ein Kino gibt im Gazastreifen.
Khalil al-Mozayen ist ein Mann mit einer Mission. 52 Jahre ist er alt, er trägt Jeans und Turnschuhe, und die Brille ist meist so hochgeschoben, dass sie den kahlen Schädel krönt. Stets hat er eine Zigarette in der Hand, und auch sonst steht er gehörig unter Dampf. Einst hat er Film studiert in Russland, ein Palästinenser in St. Petersburg.
Ohne Kino gibt es keine Kultur
Heute ist er in Gaza-Stadt Direktor einer Filmproduktionsfirma. Vor allem aber hat er den roten Teppich nach Gaza gebracht. "Red Carpet" heißt das Filmfestival, das er veranstaltet. Und das soll erst der Anfang sein: "Mein Traum ist es, das Kino wieder zum Leben zu erwecken im Gazastreifen", sagt er, "denn ohne Kino gibt es keine Kultur."
Wer wissen will, wie weit entfernt dieser Traum von der Wirklichkeit ist, der kann sich auf eine kleine Rundtour begeben zu den Spuren der Vergangenheit. Erster Halt: das Nasr-Kino mitten auf der Umar al-Mukhtar-Straße, der Haupteinkaufsmeile von Gaza. Es ist ein wuchtiger, zweistöckiger Bau, unten saß lautstark das Jungvolk, von oben schauten die Familien und feineren Herrschaften in der ersten Klasse zu.
Heute erinnert nur noch der blaue Namenszug über dem Säulenportal an die alten Zeiten mit den Filmen aus Ägypten oder Bollywood. Das Kassenhäuschen ist zugemauert, die ehemals weißen Wände sind schwarz-verkohlt seit jenem Brandanschlag, der Mitte der Neunzigerjahre die Schließung erzwang.
Zehn Kinos gab es damals noch im Gazastreifen, und alle zehn wurden ziemlich zeitgleich dichtgemacht unter dem Druck der erstarkenden Islamisten. Sie hatten die Kinos als Orte der Sünde identifiziert - wegen der Filme einerseits, andererseits aber auch wegen der Dunkelheit während der Vorführungen, die den Sittenstrengen nicht geheuer war.
Wie es damals gewesen sein mag, das kann man noch spüren, wenn man sich im alten Amer-Kino durch ein kleines Loch im vergitterten Eingang zwängt. Das Dach ist eingestürzt, wo die Sitzreihen waren, wuchert das Unkraut, aber auf dem Boden verstreut liegen immer noch Fundstücke aus einer anderen Zeit: verblichene Filmrollen und Musikkassetten, grüne Bierflaschen der Marke "Rolling Rock" sowie nicht wenige Plastikfläschchen, aus denen sich Besucher Haschpfeifen gebastelt hatten.
Westliche Kultur als Teufelszeug
Verdammt lang her, denn außer Kinos gibt es natürlich mittlerweile auch keine Drogen und kein Bier mehr im Gazastreifen, offiziell zumindest. Die heute regierenden Islamisten von der Hamas kämpfen konsequent gegen Verwestlichung und Sittenverfall - und senden dabei auch gern einmal deutliche Signale aus.
Das Kino von Khan Junis zum Beispiel, das früher "Huria" hieß, "die Freiheit", wurde kurzerhand umfunktioniert. "Dar-al-Kitab-wa-sunna", steht heute über dem Eingang. "Das Haus des Koran" dient nun als islamisches Gemeindezentrum. So werden im Kulturkampf die Symbole verkehrt, und auch die Zeit hilft der Hamas. Von den fast zwei Millionen Einwohnern des Gazastreifens sind mehr als die Hälfte unter 18 Jahre alt - sie haben also in ihrer von Israel und Ägypten abgeriegelten Heimat noch nie eine Filmvorführung im Kino erlebt.
Filme sehen sie höchstens im Fernsehen oder auf dem Computer. Die Magie einer großen Leinwand kennen sie nicht, und was man nicht kennt, das vermisst man auch nicht. Doch Khalil al-Mozayen ist in einem Alter, in dem er sich noch an die alten Filmpaläste erinnert, und bei ihm zumindest stirbt die Hoffnung zuletzt. Acht Jahre war er alt, als er zum ersten Mal ein Kino besuchte und die große Liebe fand.
"Ich habe wie aus einem Fenster geschaut und die Welt gesehen", sagt er, "seitdem bin ich süchtig." Der Vater war anfangs weniger begeistert, oft gab es Hausarrest, und einmal hat er den Sohn sogar aus dem Kino herausgeprügelt. Geholfen hat das alles nichts. "Ich habe ich Müll eingesammelt, um Geld für Tickets zu bekommen", erzählt er, "später habe ich im Kino gearbeitet und die Toiletten geputzt, um Filme sehen zu können."
Und genauso wenig, wie er sich damals hat vom Vater beirren lassen, lässt Khalil al-Mozayen sich heute von der Hamas ein-schüchtern. Von den drei Filmen, die er bis-lang selbst gedreht hat, dürfen zwei im Gazastreifen nicht gezeigt werden. "Da gibt es Szenen mit Frauen, die von der Hamas nicht akzeptiert werden", erklärt er. "Den dritten Film habe ich an der Zensur vorbei-geschmuggelt, sonst hättensie den auch verboten."
"Hamaswood statt Hollywood"
Dabei sind die Islamisten gar nicht einmal generell gegen Filme - nur gegen solche, die sie nicht kontrollieren können. Kurz nach ihrer Machtübernahme im Gazastreifen 2007 schwärmte der damalige Hamas-Innenminister sogar von einer eigenen "islamischen Filmkunst", die natürlich "nichts Anstößiges" enthalten und sich vor allem "auf den Widerstand gegen Israel konzentrieren" sollte.
"Hamaswood statt Hollywood" lautet das Schlagwort, als 2009 der Spielfilm über einen wackeren Widerstandskämpfer vorgestellt wurde, für den der Hamas-Grande Mahmud Zahar sogar höchstselbst das Drehbuch geschrieben hatte. Als Nachfolgeprojekt war ein Film über die Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit in den Gazastreifen in Angriff genommen worden. Doch der Zeitplan dafür geriet durch den Krieg von 2014 gehörig durcheinander.
Dieser verheerende 50-tägige Krieg gab schließlich auch Khalil al-Mozayen den Anstoß, wieder ein Fenster hin zur Welt zu öffnen - und ein Filmfest zu organisieren. Ganz bewusst wurde es im Mai 2015 parallel zum Festival von Cannes eröffnet, doch der Ort und die Umstände hätten gar nicht weiter entfernt sein können von der Côte d'Azur. Denn al-Mozayen rollte den roten Teppich mitten durchs Zentrum der Zerstörung, mitten durch die Trümmerlandschaft von Schedschaija, wo der Krieg am schlimmsten gewütet hatte und kaum ein Haus stehen geblieben war.
Über diesen Teppich kamen die Bewohner zur Premieren-Vorführung - mit ausgetretenen, lehmverkrusteten Schuhen, mit Krücken, im Rollstuhl. "So hatten wir die ganze Botschaft auf einen Blick: Wir wollen keinen Krieg mehr", sagt er.
Kino unter freiem Himmel
In den Ruinen unter freiem Himmel standen die Stühle für die Besucher, über mehrere Tage verteilt wurden insgesamt 20 Filme gezeigt. "Es war wie ein Wunder", meint al-Mozayen, "mit 2.000 Gästen hatten wir gerechnet - 12.000 kamen." Auch die Hamas war anfangs zufrieden, weil das Filmfest die Aufmerksamkeit der Außenwelt wieder auf die Zerstörungen lenkte. Doch als al-Mozayen in diesem Jahr die Fortsetzung des Festivals plante, bekam er die Macht der Islamisten zu spüren.
Es begann damit, dass er das Filmfest offen für alle im Hafen von Gaza-Stadt inszenieren wollte. Die Hamas verbot das mit fadenscheinigen Argumenten wie der Warnung vor einem möglichen IS-Anschlag an einem solch exponierten Ort. "Es war ein Kampf", berichtet Khalil al-Mozayen, "sie wollten die Idee zerstören und ich musste fast jeden Tag zum Verhör kommen."
Al-Mozayen ist ein durchaus impulsiver Mensch, und wer ihn erlebt, wenn er von seinem Filmfest spricht, der darf vermuten, dass diese Verhöre auch für die Hamas-Leute nicht immer angenehm waren. "Ich habe keine Angst", poltert er, "sie können mich verhaften, sie können mich töten, mir ist das egal. Wir sind doch sowieso schon alle tot in Gaza."
So spricht, zumindest ungestraft, sonst keiner im Reich der Hamas, doch al-Mozayen genießt wohl mittlerweile einen gewissen Schutz durch die auch internationale Popularität, die ihm sein Filmfest 2015 eingebracht hatte. Am Ende jedenfalls hat er sich gewundert, dass er nicht einmal verprügelt worden sei. Und das Festival fand - zeitgleich mit Cannes - tatsächlich wieder statt. Allerdings drinnen in einem Kulturzentrum.
Natürlich gab es reichlich Auflagen: Alle ausgewählten Filme mussten der Zensurbehörde vorgelegt, alle anstößigen Szenen hinausgeschnitten werden. Männer und Frauen mussten getrennt sitzen, im Gang dazwischen standen die Sittenwächter. Überdies durfte das Licht im Saal nicht ausgeschaltet werden, was die Qualität der Vorführung doch deutlich beeinträchtigte.
"Wir brauchen Luft zum Atmen"
Aber das Wichtigste: Es war großes Kino. 30 Filme in fünf Tagen. Beiträge von Palästinensern, aus arabischen Nachbarländern, aus Europa und den USA - alle zum Thema Menschenrechte. Der Titel der Veranstaltung lautete: "Wir brauchen Luft zum Atmen", und zur Eröffnung trat Khalil al-Mozayen ans Mikrofon. "Ich hätte gern Vorführungen im Freien oder im alten Nasr-Kino angeboten, aber das durfte ich nicht", rief er dem Premierenpublikum zu. "Hallo Hamas, wir sind es leid, wir brauchen ein bisschen Freiheit."
Den roten Teppich hat er vom Kulturzentrum aus die Treppen hinunter quer über die Straße ausgelegt. "Es sollte so schick wie möglich sein", sagt er. Die Besucher kamen in ihrer feinsten Kleidung, Selfies wurden auf dem Teppich geschossen.
"Trotz der ganzen Scheiße, die die Hamas angerichtet hat, war es am Ende sehr erfolgreich", bilanziert al-Mozayen. "Das war ein Event, das Gaza glücklich gemacht hat." Nun liegt der rote Teppich wieder im Zimmer neben seinem Büro. Doch 2017, das kündigt er jetzt schon mal an, wird er wieder ausgerollt im Gazastreifen.
Peter Münch
© Süddeutsche Zeitung 2016