Im Epizentrum der ''Arabellion''

Das "Tagebuch der arabischen Revolution" des deutsch-ägyptischen Journalisten Karim El-Gawhary nimmt den Leser mit auf eine abenteuerliche Zeitreise, zurück zum nervenaufreibenden Auf und Ab jener Revolutionstage in Tunesien und Ägypten im Januar und Februar 2011. Von Martina Sabra

Von Martina Sabra

Was ist die gerechte Strafe für einen alten und gebrechlichen Diktator wie Hosni Mubarak? Die Menschen aus der ägyptischen Provinzstadt Tanta im Nildelta müssen bei dieser Frage nicht lange überlegen. "Lasst ihn in unserem städtischen Krankenhaus behandeln!", lautet ihr Vorschlag – auf dass der ehemalige ägyptische Staatschef die katastrophale medizinische Versorgung im Land endlich einmal am eigenen Leib erlebe.

Solide politische Hintergrundinformationen, gespickt mit humorvollen Einblicken in den arabischen Alltag, ohne Vorurteile und ohne orientalistische Brille: Wie gekonnt er diesen journalistischen Mix beherrscht, stellt Karim El-Gawhary auch mit seinem neuen Buch unter Beweis.

Der Nahostkorrespondent deutsch-ägyptischer Herkunft, der von Kairo aus für das österreichische Fernsehen und Radio sowie zahlreiche andere deutschsprachige Medien arbeitet, liefert in seinem "Tagebuch der arabischen Revolution" nicht die gedrechselten Analysen, die den Nahen und Mittleren Osten früher oft wie ein Schachbrett aussehen ließen. Bei El-Gawhary kommen Individuen zu Wort – Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten, die mit Hoffnung, Kreativität und Humor ihren oft schwierigen Alltag bewältigen.

Ein modernes Politmärchen

Buchcover Karim El-Gawhary: Tagebuch der arabischen Revolution
Keine gedrechselten Analysen, sondern solide politische Hintergrundinformationen, gespickt mit humorvollen Einblicken in den arabischen Alltag: El-Gawharys Tagebuch der Arabischen Revolution.

​​El-Gawharys genaues Hinschauen am Anfang der arabischen Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, wie atemberaubend das Tempo der Ereignisse Anfang 2011 war. Scheinbar unangreifbare autoritäre Systeme fielen in sich zusammen wie Kartenhäuser. Diktatoren räumten im 14-Tages-Rhythmus ihre Sessel.

Die internationalen Nahostkorrespondenten saßen permanent auf Koffern, hatten kaum noch Zeit zum Luftholen, hetzten den Ereignissen nur noch hinterher. Und sie waren baff angesichts der Friedfertigkeit und des Organisationstalentes der Demokratiebewegungen in Tunesien und Ägypten.

"Was da geschah, mutete wie ein modernes Politmärchen an, dessen Inspirationskraft sich kaum jemand entziehen konnte", beschreibt der Kairoer Journalist seine Eindrücke und Gefühle rückblickend.

El-Gawharys Veröffentlichung ist kein eigenständiges Buch im landläufigen Sinn. Es handelt sich vielmehr um eine chronologische Zusammenstellung von Zeitungsartikeln, Blogeinträgen, transkribierten Fernseh- und Radioschaltungen, Tweets und Facebook-Postings, die er während der Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen verfasste.

"Scotty, beame mich zum Tahrirplatz!"

Interessierte haben so die Möglichkeit, die Geschehnisse noch einmal unmittelbar Revue passieren zu lassen – in Abwandlung des Star-Trek-Klassikers: "Scotty, beame mich zum Tahrirplatz!"

Umrahmt werden die Textdokumente durch kurze erklärende Passagen über die Vorgeschichte und den Verlauf der Revolutionen.

Dabei lässt El-Gawhary seinen persönlichen Emotionen freien Lauf: nach Jahren permanenter Negativschlagzeilen endlich zu erleben, wie die Menschen Mut fassten, wie sie ihre Angst abschüttelten und unter Einsatz ihres Lebens für Demokratie kämpften, habe ihn zu Tränen gerührt, erzählt er.

Aber der studierte Politologe und Islamwissenschaftler gibt auch Fehleinschätzungen zu: So habe er sich zunächst nicht vorstellen können, dass auch Libyens Diktatur stürzen würde. Das Regime Muammar Al-Ghaddafis sei ihm vorgekommen wie "ein Bollwerk der unterdrückerischen Regime in der Region, ein arabisches Nordkorea".

El-Gawharys Einträge enden im April 2011. Den abschließenden Ausblick zu seinem Buch, einen augenzwinkernden "Blick in die arabische Kristallkugel" hat er im Juli 2011 verfasst. Wie sich die arabische Welt in Zukunft entwickeln wird – ob sich letztlich die Demokraten durchsetzen werden, ob die Islamisten die Oberhand gewinnen oder ob einfach nur die Führungseliten ausgetauscht werden – zu dieser Frage gibt El-Gawhary vernünftigerweise keine Prognose ab.

Fest steht für ihn jedoch, dass die arabischen Revolutionen von Anfang an authentisch waren und keine Anstiftung von außen brauchten. Er ist sicher, dass die Unterstützung westlicher Geheimdienste nicht nötig war, um die Menschen gegen ihre Diktatoren auf die Straße zu bringen. In den militärischen Konflikt in Libyen seien die Europäer "hineingeschlittert", so El-Gawharys These. Die Nato-Bombardements seien nicht in erster Linie durch das Interesse am libyschen Erdöl motiviert gewesen.

Extreme Gefühlsschwankungen

Nur eins ist für El-Gawhary gewiss: Die arabische Welt wird sich in den kommenden Jahren mehr denn je als "Baustelle" präsentieren, sie wird politisch unberechenbarer, chaotischer und insgesamt weniger vorhersagbar sein. Die USA und Europa stehen deshalb vor der Herausforderung, ihre Beziehungen zu den arabischen Ländern von Grund auf zu überdenken und neu zu gestalten.

Gawhary-Schalte in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens am 26.1.2011, dem sogenannten Tag des Zorns  in Ägypten
Auffallend und ein Zeichen für die Qualität von El-Gawharys Berichterstattung ist die Tatsache, dass sogar die Transkriptionen seiner Live-Fernsehschalten aus jenen Tagen spannend zu lesen sind, meint Martina Sabra.

​​Das "Tagebuch der arabischen Revolution" nimmt den Leser mit auf eine abenteuerliche Zeitreise, zurück zum nervenaufreibenden Auf und Ab jener Revolutionstage in Tunesien und Ägypten im Januar und Februar 2011.

Noch einmal durchlebt man die extremen Gefühlsschwankungen, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt, immer wieder hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung auf ein nahes Ende der Diktatur und der Angst, dass die Mächtigen die Revolution am Ende doch noch zusammenschießen lassen.

Auffallend und ein Zeichen für die Qualität von El-Gawharys Berichterstattung ist die Tatsache, dass sogar die Transkriptionen seiner Live-Fernsehschalten aus jenen Tagen spannend zu lesen sind.

Bewegende Zeitreise

Teilweise merkt man dem Buch an, dass es unter Zeitdruck entstanden ist. Angesichts der zahlreichen Personen sowie der vielen Orts- und Straßennamen wären Karten, eine Zeittafel und ein Register wahrhaft nützlich gewesen. Doch ansonsten sollte man sich bewusst machen, um was es hier geht. Es handelt sich um ein Tagebuch, um ein Zeitdokument – nicht mehr und nicht weniger.

Die Auslöser der Revolutionen in Ägypten und Tunesien werden zwar ausführlich geschildert, doch eine Auseinandersetzung mit den tiefer liegenden sozialen Ursachen der Umstürze sollte man nicht erwarten – ebenso wenig wie eine ausführliche Begründung der These vom "Hineinschlittern" Frankreichs und der Nato in Libyen. Wer mehr will, muss andere Bücher lesen. Wer sich allerdings auf das Tagebuchformat und seine Grenzen einlässt, den erwartet eine spannende, bewegende Zeitreise zu den Anfängen der arabischen Revolution.

Martina Sabra

© Qantara.de 2011

El-Gawhary, Karim: Tagebuch der Arabischen Revolution. Kremayr & Scheriau, Wien, September 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de