Der Orient – so nah und doch so fern

Für die Frühromantiker und Alt-Philologen Karl Wilhelm Friedrich Schlegel (1772-1829) und August Wilhelm Schlegel (1767-1845) stellte der Orient Zeit ihres Lebens eine Quelle der literarischen und kulturellen Bereicherung Europas dar. Von Melanie Christina Mohr

Von Melanie Christina Mohr

Die Europadebatte, prangert der Soziologe Jürgen Habermas an, überließen die Intellektuellen den Verwaltungsexperten und Politikern. Insbesondere wenn es um die Definition der europäischen Idee geht, scheiden sich die Geister und laut Habermas hauptsächlich die politischen. Dabei ist das geistig-kulturelle Engagement unabdingbar. Insbesondere wenn es um die Frage geht, inwieweit der Islam Teil dieses sozio-kulturellen europäischen Gerüsts ist oder sein soll, oder wie weit die Wurzeln einer europäischen Idee an die christlich-abendländische Kultur geknüpft sind.

Gegenwärtig fungiert der Osten auch in dieser Frage stets als das konfrontative Gegenstück, von dem es sich abzugrenzen gilt. Was Habermas beklagt, sorgte aber schon bei den Frühromantikern für Empörung. Für die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel verkörperte eine der grundlegenden Schritte in der Debatte um die europäische Gestaltung die Distanzierung von der politischen Ebene und die Einmischung der Intellektuellen.

Über geographische Grenzen hinweg

Für die Brüder Schlegel ging es dabei zwar weniger um die Rolle der Religion, als vielmehr um die Stärkung der Bildung; die Schnittmenge findet sich jedoch in dem Grundverständnis "das Andere" - den Orient - nicht als Bedrohung, sondern als Motor zu begreifen. Die beiden Altphilologen und Indologen wollten ihre Bestrebungen auf den Fundamenten eines breitgefächerten Bildungssystems umgesetzt wissen. Beiden war klar, dass sich Wissen nur über geographische Grenzen hinweg verstärken kann und ein gesundes europäisches Gedächtnis sich nur aus einem globalen Verständnis herausbilden würde.

Auch wenn sich Friedrich Wilhelm Schlegel, sprach er vom Orient, hauptsächlich auf den indischen Subkontinent bezog und die Ursprache im Sanskrit beheimatet sah - von dem wir heute wissen, dass sie sich aus dem indogermanischen entwickelt hat - teilte er dennoch die Vorstellung seiner Zeitgenossen Goethe und Schiller, dass die Quelle des menschlichen Schaffens im Osten liegt und damit eng an das Allgemeinwissen einer modernen Gesellschaft geknüpft sein sollte.

Der Orient als Vorbild

Das persönliche Anliegen der Brüder Schlegel, die literarische Europäisierung, setzte die Auseinandersetzung mit der Quelle der menschlichen Produktivität - dem Orient - unausweichlich voraus. Der Osten versteht sich hier jedoch nicht nur als Ursprung, sondern auch als Vorbild. Und so bemerkt Schlegel: "Wenn der Orient, die Region ist, von welcher die Regenerationen des Menschengeschlechtes ausgeht, ist Deutschland als der Orient Europas zu betrachten".

Zeichnung aus Ferdowsis "Shahnameh"; Quelle: wikipedia
Einen dringlich zu überwindenden Gegensatz sah August Wilhelm Schlegel in der Natur des Okzidents, dessen "künstlichen Charakter" es zu durchbrechen gelte. Der Orient hingegen zeichne sich durch seine natürlich-ursprüngliche Gestalt aus: "Was im Orient alles in Einem mit ungeteilter Kraft aus der Quelle springt, dass teilt sich hier", so Schlegel.

Der Analogieschluss Schlegels fußt auf dem Umstand, dass sich deutsche Dichter und Denker zu jener Zeit durch hervorragende Übersetzungen hervorgetan haben. Wer sich zu den namenhaften Literaten des späten 18. Jahrhunderts zählen wollte, wusste über das philologische Handwerk Bescheid und hat sich durch detailgenaue Übersetzungen ausländischer Literatur hervorgetan.

Man wollte sich nicht vom Fremden distanzieren, sondern den eigenen Horizont erweitern. Das Bewusstsein der höheren Ursprünglichkeit des Orients veränderte für die Gebrüder Schlegel auch die geschichtsphilosophische Einschätzung und zwar nicht nur des Vergangenen, sondern auch die eigene Zeit betreffend. Einen dringlich zu überwindenden Gegensatz sah August Wilhelm in der Natur des Okzidents, dessen "künstlichen Charakter" es zu durchbrechen gelte. Der Orient hingegen zeichne sich durch seine natürlich-ursprüngliche Gestalt aus: "Was im Orient alles in Einem mit ungeteilter Kraft aus der Quelle springt, dass teilt sich hier".

"Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen"

Friedrich Wilhelm Schlegel, der vermutlich herausragendste Vertreter des Fachbereichs der Indologie, schuf mit seinem Werk "Über die Sprache und Weisheit der Inder", das 1808 in Heidelberg verlegt wurde, einen bemerkenswerten Anstoß, der sich darauf stützte, sich nicht vom Interesse der griechischen Sprache und Kultur vollkommen einnehmen zu lassen, sondern "die erste Quelle aller Ideen und aller Geistesbildungen, kurz der ganzen höheren menschlichen Bildung (…) unstreitig im Orient" zu sehen. Seine dreihundert Seiten umfassende Monographie sollte als Aufforderung verstanden werden, "sich mit der ältesten Denkart des menschlichen Geistes" zu beschäftigten.

Der persönliche Weitblick des Literaturkritikers, den er durch das Studium altindischer aber auch persischer Texte erfahren hat, brachte ihn soweit, nicht nur den Korpus der Texte zu feiern, die er detailgenau übersetzte und analysierte, sondern auch den Ort, an denen sie entstanden sind, zum Vorbild zu deklarieren - wie in der Debatte um die Gestaltung und Umsetzung der europäischen Idee deutlich wird.

In "Über den Inhalt und Stoff der Philosophie"* schätzte er zweifelsohne den Kunstcharakter der griechischen Bildung und Poesie, unterstrich dabei allerdings, dass "die ganze griechische Philosophie" als ein Versuch zu verstehen sei, "die verlorenen, ältesten Offenbarungen des Menschengeschlechts (…) wiederherzustellen". Denn alles was im Mensch ist, sah er im Ursprung einer Quelle - dem Orient - beheimatet. Resümierend gelangte er zu dem Fazit: "Ich habe über vieles eine andere Ansicht und Einsicht bekommen, seit ich aus dieser Quelle schöpfen kann".

Melanie Christina Mohr

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* BEHLER, Ernst (Hrsg.) (1958) / SCHLEGEL, Friedrich: Wissenschaft der europäischen Literatur" : Vorlesungen, Aufsätze und Fragmente aus der Zeit von 1795-1804, Verlag Ferdinand Schöningh / Thomas-Verlag: Zürich, München, Paderborn, Wien.