Personenkult und militärischer Gleichschritt

Die Demonstrationen zur "Verteidigung der laizistisch-republikanischen Ordnung" zeigen den nationalistischen Diskurs in der Türkei, der alles verurteilt, was nicht dem kemalistischen Dogma entspricht.

Von Günter Seufert

Was ist nur los in der Türkei? Da protestieren Hunderttausende – darunter viele Frauen und Jugendliche, Vertreter der gut ausgebildeten und europäisierten Mittelschichten – gegen eine Regierung, die ihr Land, wie sonst keine in den letzten Jahrzehnten, nach Europa geführt hat.

Da veranlasst die Angst vorm "Untergang der säkularen Republik" das Militär dazu, mit einem Putsch zu drohen. Und als Beispiele für diese angeblich aktuelle Gefährdung nennen die Generäle die Aufführung von religiösen Liedern in der Schule sowie Wettbewerbe im Koranvortrag.

Da spricht das Militär von seinem Recht, die demokratisch gewählte Regierung, sechs Monate vor Beginn der Neuwahlen zu stürzen und erhält dafür von der Partei stärksten Applaus, die Mitglied in der sozialdemokratischen Sozialistischen Internationale ist. Und da lassen sich Millionen bei ihrem Protest gegen die Regierung nicht davon stören, dass diese mit einem möglichen Staatsstreich konfrontiert wird.

EU-Beziehungen am seidenen Faden

Wie erklären sich türkische Intellektuelle das Gewirr dieser paradoxen Phänomene? Die Journalistin H. Gökhan Özgün versuchte es mit einem Märchen. Es handelt von der Prinzessin Türkan und dem Aschenputtel Hayrünisa und vom Verhältnis dieser beiden Frauen zu einem Mann namens Europa, der sich, weil ihm die Faxen von Türkan auf die Nerven gehen, nun plötzlich für Hayrünisa interessiert zeigt.

"Europa hat sich eine neue Kandidatin gesucht. Und wen? Ein Aschenputtel. Türkan, Prinzessin von Geburt an, welche das Aschenputtel bisher nie bemerkt hat, schaut jetzt erst fragend und dann voller Abscheu auf Aschenputtel. Das soll jetzt an ihre Stelle treten! Was hat Europa da nur vor?!"

Hayrünisa, so heißt die Frau Außenminister Abdullah Gül, deren Kopftuch zum Stolperstein für seine Wahl zum Staatspräsidenten wurde, und Hayrünisa steht für die Wähler der AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdogan. Türkan, so heißt die Professorin Türkan Saylan. Ihr "Verein für das moderne Leben" ist Mitorganisator der Großdemonstrationen und Türkan steht auch für diejenigen, die dort mitgelaufen waren.

In einem offenen Brief an die EU, hatte Türkan Saylan Anfang Mai 2007, den Europäern die Botschaft der Demonstranten vermittelt, die auch am letzten Sonntag in Samsun wieder "Weder EU noch USA" gerufen haben.

"In manchen Dingen", schreibt Türkan Saylan in ihrem Brief, "ist das Volk der Republik Türkei äußerst sensibel … Am wichtigsten ist ATATÜRK. Ob Dorf oder Stadt, ob sieben Jahre oder Siebzig, ob Unter- oder Oberschicht, der Schöpfer dieses Landes, der große Mensch, der die Reformen durchgeführt und der die säkulare Ordnung aufgerichtet hat, wird ausnahmslos geachtet und von Herzen geliebt. Nur Separatisten und radikale Religiöse sowie einige wenige Intellektuelle denken anders."

Dann fährt sie fort und sagt: "wenn jetzt auch noch Verantwortliche der Europäischen Union Kritik an ATATÜRK betreiben, dann schaden sie unseren Beziehungen, die ohnehin am seidenen Faden hängen."

Schulterschluss mit dem Militär

Genau denselben Effekt hat – nach Saylans Ansicht – jedes Herummäkeln Europas am politischen Einfluss des Militärs. Denn weder die Europäer noch die USA können sich vorstellen, schreibt Saylan, wie stark das Band aus Achtung und Liebe ist, welches in der Türkei das Volk und die Armee verbindet.

"Die Europäische Union muss wissen", fährt Türkan Saylan fort, "dass die ARMEE, deren Hauptaufgabe der Schutz der laizistisch-republikanischen Ordnung ist, das gleiche Recht hat, sich zu Wort zu melden, wie jede NGO, wenn es von Verantwortlichen gedultete Initiativen gibt, die sich am religiösen Recht orientieren und Kinder ausnutzen."

Ein zweiter Motor der Großdemonstrationen nennt sich "Atatürkscher Denkverein", in dessen Vorstand der frühere Befehlshaber der türkischen Gendarmen sowie Professorin Necla Arat sitzen. Auch Arat will im Memorandum der Militärs nichts Außergewöhnliches sehen. Schließlich erklären sich auch Ingenieure und Unternehmer, Politiker und Intellektuelle öffentlich.

"Warum werden wir unruhig, wenn die Soldaten ihre Meinung sagen?", fragt sich deshalb Necla Arat. Wie Saylan glaubt auch Arat, dass das umso mehr in Situationen zutrifft, in denen der Islamismus droht, der in der Türkei oft auch als "religiöse Reaktion" bezeichnet wird.

Was das heißt, hat letzte Woche eine andere Akademikerin auf den Punkt gebracht. In ihrer Rede anlässlich des 139. Jahrestags der Gründung des Obersten Verwaltungsgerichtshofs sagte dessen Präsidentin Sumru Çörtoglu: "Jede Bewegung, die nicht mit Atatürks Prinzipien und Reformen übereinstimmt, gehört zur religiösen Reaktion." Noch prägnanter ist die offizielle Ideologie der Republik Türkei nicht zu bezeichnen.

Politisches Tabu

Ist damit auch der Rahmen für jede Art politischer Freiheit abgesteckt? Und was geschieht mit jenen, die Sozialisten oder liberale Demokraten sind – politische Entwürfe, mit denen die Welt Atatürks nicht allzu viel gemein hat, fragt Murat Belge, einer der führenden liberalen Intellektuellen Istanbuls.

Hinzufügen könnte man Aspekte wie Pluralismus und Antimilitarismus, Individualismus und Vorstellungen von einer offenen Gesellschaft, ein Gutteil dessen eben, was seit dem Zweiten Weltkrieg das politische Denken in der EU bestimmt.

Für die Organisatoren der Großdemonstrationen machen solche Neuerungen jedoch wenig Sinn. In ihren Reden geht es um eine "nationale Einheit", die gegen "künstliche Grenzziehungen" verteidigt werden muss, um "Feindschaft gegen die Republik", "neo-koloniale Einflussnahme des Auslands", die "Spaltung des Vaterlands" und natürlich die "religiöse Reaktion".

Es sind exakt die Formeln, die auch das Militär in seinen Erklärungen verwendet, Begriffsbausteine, die sich nahtlos zu einem großen Tabu zusammenfügen lassen.

Personenkult um Atatürk

Gerechtfertigt wird dieses Tabu mit dem Vermächtnis des Republikgründers Kemal Atatürk, der mehr und mehr zu einer sakralen Figur erklärt wird. "Großer Führer Mustafa Kemal Atatürk" – mit diesen Worten während der Demonstration in Ankara sprach Professor Ali Ercan, Vorstandsmitglied des "Atatürkschen Denkvereins", den toten Staatsmann in dessen Mausoleum direkt an und fuhr fort. "24.992 Tage sind es, seit Du von uns gegangen bist. Wir treten heute voll Scham und Trauer vor Dich hin."

Wie eine Antwort auf den Appell des Professors an Atatürks ertönte später dessen eigene Stimme: die Aufnahme einer Rede, die Atatürk 1933 gehalten hatte.

"Wenn ich doch auch ein Glied der kemalistischen Kirche wäre und wie ein Kind unter nicht endender Vormundschaft leben könnte", kommentierte die Schriftstellerin Perihan Magden in ihrer Kolumne diesen Personenkult, und schreibt:

"Ich würde meine Stirn auf den Marmor des Mausoleums von Atatürk legen, die Steine des Grabmals küssen und sagen: 'Mein Vater, ich fühle mich so allein!' Dann käme eine Stimme aus dem Dunkeln, die sagte: 'Du bist doch nicht alleine! Du hast Generalstabchef Yasar Büyükanit, der sich für meinen Stellvertreter hält, du hast Deniz Baykal, der als Chef meiner Partei (der 'Republikanischen Volkspartei', CHP) gilt und außerdem hast du die Hunderttausende Brüder und Schwestern, die wie du selbst von Demokratie nicht viel verstehen.' Dann würde ich mir schnurstracks ein Stretch-T-Shirt mit Dekolleté und eine Mütze mit der türkischen Fahne darauf kaufen und zu den Republikdemonstrationen gehen."

Panikmache vor drohender Islamisierung

Wie viele liberale Intellektuelle glaubt auch Magden nicht daran, dass von der AKP eine islamische Gefahr ausgeht. Und so denkt ebenfalls der bekannte Musiker und Komponist Garo Mafyan: "Meine Lebensphilosophie ist Fisch mit Anisschnaps am Bosporus", meint er – und dennoch schreckt er nicht davor zurück, Gedichte des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu vertonen, in dem Kemalisten einen "islamischen Wolf im Schafspelz" sehen wollen.

500 Akademiker und Intellektuelle haben Anfang dieser Woche eine Erklärung gegen die Putschdrohung des Militärs veröffentlicht. "Wir glauben nicht, dass die laizistische Republik durch Memoranden des Militärs gestärkt werden kann, sondern nur durch mehr Demokratie", heißt es darin. Solch klare Worte fanden bisher weder die Opposition noch die Teilnehmer der Großdemonstrationen, welche in Izmir auch der Besatzung eines Kriegsschiffes zugejubelt hatten.

Denn mehr Demokratie, wie sie in der Erklärung der 500 Akademiker gefordert wird, löst das Problem der säkularen Mittelschichten auf den Demonstrationen nicht. Mehr Demokratie zielt auf politische Integration der bislang benachteiligten Schichten, der religiösen Minderheiten Anatoliens und der Kurden.

Es sind diese Gruppen, welche dem Idealbild der säkularen Türken nicht ohne weiters entsprechen, die sich aber trotzdem immer stärker in der wirtschaftlichen, kulturellen und eben auch politischen Öffentlichkeit bemerkbar machen.

Günter Seufert

© Qantara.de 2007

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