Tanz um das Klischee
Anfangsszene. Ein Junge tanzt ausgelassen vor einer jubelnden Schulklasse und wird von seinem finster dreinblickenden Lehrer dabei erwischt. Nächste Szene, auf dem Nachhauseweg. Der Junge erzählt seiner Mutter, dass er vom Lehrer verprügelt wurde. Die Kulisse wurde bis ins letzte Detail arrangiert. Im Hintergrund fällt ein Propaganda-Wandgemälde mit Soldaten auf. Am Rand spielt sich eine Marktszene ab. Eine Handvoll Frauen, von denen alle mit dem Tschador verschleiert sind, tummelt sich an Gemüseständen.
Die besorgte Mutter, die als einzige Frau im Bild ein lockeres Kopftuch trägt, erklärt dem jungen Möchtegern-Tänzer die Welt: "Siehst du die Männer dort drüben?" – Kameraschwenk auf eine Gruppe junger Männer mit Bart und weißem Hemd. "Das sind die Basidsch, die Moralwächter. Wenn sie sehen, dass du tanzt, tun sie dir noch Schlimmeres an."
Alle Klischees in zwei Minuten
Nicht einmal zwei Minuten braucht der neue Iran-Film "Wüstentänzer" des britischen Regisseurs Richard Raymond, um alle gängigen Klischees über den Iran aufzuwärmen. Die Versatzstücke werden so dicht aneinander gereiht, dass es einem Irankenner in der Magengegend wehtut. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ja, es gibt im Iran vieles von dem was dortgezeigt wird. Aber wie so oft wird der größere Rest der Realität gar nicht abgebildet.
Die Handlung des Films, der auf einer wahren Begebenheit beruht, ist schnell erzählt. Der junge Afshin hat einen Traum: Er will Tänzer werden. Doch in seiner Heimat Iran ist das Tanzen verpönt und eine Karriere als Tänzer unmöglich. Als Afshin zum Studium nach Teheran zieht gründet er eine Untergrund-Tanzgruppe.
Doch die Basidsch versuchen ihm einen Strich durch die Rechnung zu ziehen. Um nicht aufzufallen, organisiert Afshin mit seinen Freunden eine Tanzaufführung in der Wüste, wo ihn die Sittenpolizei nicht aufspüren kann. Publikumswirksam wird die ganze Story mit einer Liebesgeschichte und einer großen Portion Pathos vermischt.
Der echte Afshin meldet sich zu Wort
Auch die Grüne Bewegung von 2009 wird im "Wüstentänzer" nachgestellt. In einer turbulenten Protestszene filmt Afshin mit einem Camcorder die Gewalt gegen Demonstranten. Interessanterweise leugnete auf einer Präsentation des Films in Berlin der echte Afshin Ghaffarian, inzwischen Tänzer in Paris, dass er je bei einer Demo gefilmt hätte. Auch Flüchtling, wie im Film dargestellt, sei er nicht gewesen, sondern hätte sich schlichtweg auf einer Reise dazu entschieden, in Europa zu bleiben.
Auffällig sind die Mittelmäßigkeit der Schauspieler und die ausgesprochene Naivität, mit der sich der Protagonist in den eher simpel gestrickten Dialogen verhält. Jemand, der schon mal im Iran war, wird merken, dass der Film oft gänzlich an der Realität des Landes vorbeigeht. Einmal etwa schaut sich Afshin mit einem Freund ein Video am Laptop an und fragt völlig verblüfft: "Ihr guckt Youtube?" Dabei gehört die Anti-Filter-Software zur Standardausrüstung auf praktisch jedem iranischen Rechner.
Auch die Darstellung der Uni Teheran ist eine Farce: Am nachgebildeten Eingangstor stehen schwarz gekleidete Frauen, die jeder Studentin vor dem Betreten des Campus das Kopftuch zurechtrücken. Solche Eintrittskontrollen gibt es an keiner Teheraner Uni. In einer anderen Szene wird eine Untergrundparty dargestellt, bei der ein Haufen Heroinsüchtige sich ins Jenseits katapultieren, während Pärchen wild auf der Tanzfläche knutschen. Auch hier überzeichnet der Regisseur mächtig.
Wie viel Einseitigkeit lässt sich ertragen?
Natürlich mag diese Detailkritik kleinkariert klingen. Entschuldigend könnte man sagen, dass Filme immer etwas überzeichnen müssen, um wirksam zu sein. Und immerhin hat der Held des Films viel durchgemacht. Aber wie viel Einseitigkeit lässt sich zugunsten einer filmischen Botschaft ertragen? Zumindest bietet das Medium Film weitaus mehr Spielraum für Differenzierung.
Aber genau diese scheint beim Iran oft nicht erwünscht zu sein. Das Narrativ von einem unterdrückten, unglücklichen Volk, dass sich nach Erlösung und den Freiheiten sehnt, die wir schon lange genießen – ist einfach erzählt und verkauft sich gut. Denn in diesem Narrativ liegt immer auch eine Selbstbestätigung: Unsere Werte und Vorstellungen sind richtig, während das Fremde oftmals als rückständig oder repressiv wahrgenommen wird.
Ein gutes Beispiel für diesen Mechanismus, der beim Iran schon ein Automatismus ist, ist die "Happy"-Affäre. Eine Gruppe junger Iraner nahm im Juni ein Video auf und tanzte ausgelassen zum Pop-Hit "Happy". Ein paar Frauen darin trugen kein Kopftuch und bewegten sich zwanglos an der Seite der Männer. Die Jugendlichen wurden festgenommen.
Klar sollte man das verurteilen, aber man muss es nicht ewig breittreten. Natürlich lud der Titel des Musikstücks viele Journalisten zu einer nicht sonderlich kreativen Schlagzeile ein: "Im Iran darf man nicht glücklich sein". Aber: Was so banal klingt, prägt sich beim Leser ein. Artikel über geglückte Kulturprojekte in Teheran oder glückliche Iraner hingegen gibt es kaum.
Dezidiert negative Darstellung
Auch im Kino hat die Darstellung des Iran in einem dezidiert negativen Licht Tradition. Die drei US-Produktionen "Nicht ohne meine Tochter" (1991), "300" (2007) und "Die Steinigung der Soraya M" (2008) transportierten bereits drei Schattierungen an Schwarz-Weiß-Bildern vom Iran in die westlichen Kinosäle. Mal sind Iraner erbarmungslos patriarchalische Familientyrannen, mal blutrünstig-barbarische Perserkrieger und mal im Mittelalter stecken gebliebene Fanatiker.
Über jeden Film dieser Machart wurde in den iranischen Medien berichtet – auch über den "Wüstentänzer". Oft ist dann von einem "soft war" des Westens die Rede, Verschwörungstheorien sind schnell bei der Hand. Nach der Verleihung des Oscars an das Politdrama "Argo" 2013 unternahm die Islamische Republik sogar einen Versuch, Hollywood wegen seiner Anti-Iran-Propaganda zu verklagen.
Die Kritik am Iran-"Framing" ist berechtigt und muss entlang feiner Trennlinien geäußert werden. Es geht nicht darum, Missstände zu relativieren oder zu entschuldigen.
Doch wer sich glaubwürdig für die Iraner und ihre Lebensumstände interessiert, hilft ihnen nicht damit, ihr Land immer nur schwarzzumalen. Das gilt auch für einen Regisseur, der ein dramatisches Schicksal auf die Leinwand bringen will.
Marian Brehmer
© Qantara.de 2014