Warum vertrauen die Araber dem Militär?
Neigen die Menschen in der arabischen Region dazu, transparenten und korruptionsfreien Institutionen mehr zu vertrauen als anderen? Logisch wäre das, aber offensichtlich ist das Gegenteil der Fall.
Laut dem Arabischen Barometer von 2018-2019 haben 49,4 Prozent der Menschen in Algerien, Palästina, Jordanien, Tunesien, Marokko, Kuwait, Ägypten, im Irak, im Libanon, im Sudan und im Jemen ein hohes Maß an Vertrauen in ihre Streitkräfte, und 26 Prozent haben immerhin ziemlich viel Vertrauen. Und in derselben Umfrage meinten 47,3 Prozent der Befragten mit hohem Vertrauen in die Streitkräfte, auf der nationalen Ebene ihrer Länder sei die Korruption sehr hoch, während 52,2 Prozent von ihnen sagten, die Korruption dort seit durchschnittlich.
2018 meinten beispielsweise in Ägypten 57 Prozent der befragten Bürger, sie vertrauten der Armee in hohem Maße, während 27,3 Prozent immerhin ziemlich viel Vertrauen hatten. Und interessanterweise glaubten 48 Prozent der Befragten mit hohem Vertrauen in die Armee, die Korruption im Land sei extrem. Die Mehrheit der befragten Menschen neigte zu der Ansicht, auf der nationalen Ebene (in den formalen Institutionen) gäbe es ein hohes Maß an Korruption: 74 Prozent der Irakis, 59 Prozent der Libanesen, 77 Prozent der Libyer, 42 Prozent der Marokkaner, 46 Prozent der Sudanesen, 74 Prozent der Tunesier und 33 Prozent der Jemeniten.
Hohe Korruptionsgefahr in MENA-Staaten
Laut Daten des Government Defence Integrity Index (GDI), in dem fünf Risikobereiche für Korruption – im politischen, persönlichen, operativen, finanziellen und beschaffungspolitischen Bereich – berücksichtigt werden, ist in der überwiegenden Mehrzahl der MENA-Länder die Korruptionsgefahr hoch. Der GDI ordnet die Korruptionsrisiken in Kategorien von A bis F ein, wobei F für das höchste Risiko steht und A für das geringste. Die meisten MENA-Länder erreichen dabei ein bedenkliches oder sehr hohes Korruptionsniveau.
Algerien, Jordanien, Ägypten, Marokko, Oman, Qatar und Saudi-Arabien leiden unter einem bedenklichen Korruptionsrisiko im Verteidigungssektor, während in Kuwait, im Libanon, in Palästina und in den Vereinigten Arabischen Emiraten in diesem Sektor ein hohes Risiko besteht.
Verglichen mit den Daten des Arabischen Barometers erkennen wir, dass in den Ländern mit bedenklichem Korruptionsrisiko das Vertrauen in die Armee hoch ist. Beispielsweise vertrauen in Tunesien, dem einzigen MENA-Land, dass in die Kategorie "D" fällt, 69 Prozent der Befragten den Streitkräften, obwohl 74 Prozent von ihnen glauben, im Land gäbe es nicht gerade wenig Korruption. Das Niveau der Korruptionsgefahr im Verteidigungssektor scheint sich dort leicht zu verbessern.
Ein Bedürfnis nach Sicherheit? Heldentum? Militarismus?
Diese widersprüchliche Einstellung gegenüber korrupten Institutionen, die nicht nur ihre Macht missbrauchen und die Wirtschaft ausbeuten, sondern unter dem Vorwand von Geheimhaltung und nationaler Sicherheit auch Untersuchungen und Kontrollen verhindern, wirft die Frage auf, warum die Menschen denjenigen vertrauen, die sie als korrupt wahrnehmen. Ist es das Bedürfnis nach Sicherheit? Heldentum? Militarismus?
Ist den Bürgern die Korruption im Verteidigungssektor überhaupt bekannt, oder schauen sie lieber weg, weil die Armee die mächtigste Institution im Land ist? Tatsächlich wissen viele Menschen über die Korruption im Militär Bescheid, reden aber nicht davon, weil sie vielleicht extreme Strafen fürchten. Also berichten die Medien nicht über Korruptionsfälle, und damit werden sie in der breiten Bevölkerung nicht bekannt.
Die Daten zeigen, dass die Wahrnehmung von Korruption auf nationaler Ebene in den MENA-Ländern den Verteidigungssektor und die Streitkräfte nicht mit einschließt. Das große Vertrauen gegenüber den Streitkräften verglichen mit anderen politischen und rechtlichen Organisationen spiegelt einen Widerspruch in dieser Wahrnehmung wider.
Vertrauenslücke zwischen Armee und Zivilgesellschaft
Es scheint, dass die Bürger in der MENA-Region die Armee von ihrer Korruptionswahrnehmung ausschließen und sie als eine von der Regierung, vom Parlament und von der Gerichtsbarkeit getrennte Einheit betrachten. Dass die Streitkräfte als einzigartige Institution betrachtet werden, lässt auf eine Vertrauenslücke zwischen den zivilen und den militärischen Institutionen in der Region schließen.
Die Armee verkauft sich als Retter der Nation vor externen und internen Feinden, und diese Glorifizierung scheint als Manipulationsstrategie zu dienen. Die Beziehungen zwischen dem zivilen und dem militärischen Sektor in den MENA-Ländern sollten durch die Frage untersucht werden, wie das Militär in den Medien öffentlich dargestellt wird.
Ein wichtiges Kriterium des GDI besteht darin, wie gut die Informationen über den Verteidigungssektor zugänglich sind. Laut GDI werden diese Daten in allen MENA-Ländern (mit Ausnahme von Tunesien) extrem geheim gehalten, und so ist es den Medien, den Journalisten und den zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht möglich, das Militär zu kritisieren.
Den lokalen Medien ist es (in den meisten MENA-Ländern sogar gesetzlich) verboten, Daten über den Verteidigungssektor zu veröffentlichen, da sie als geheim betrachtet werden und sonst angeblich die nationale Sicherheit gefährdet werde. Allerdings gibt es Möglichkeiten, korrupte Praktiken innerhalb ziviler Institutionen zu enthüllen. In den meisten Fällen werden diese Korruptionsskandale als politisches Werkzeug verwendet, um öffentliche Unterstützung zu erlangen, so wie es im Libanon der Fall ist.
Die Armee "als Retter des Volkes" in Ägypten
In gespaltenen Gesellschaften und politisch polarisierten Staaten (wie im Libanon, in Tunesien und im Irak) versucht das Militär, ein Gefühl nationaler militärischer Identität zu schaffen. In diesen Fällen stellt sich die Armee als Akteur dar, der alle Interessengruppen und religiösen Richtungen vereinigt. Sie versucht, sich als Schützer der Einheit zu profilieren, der alle gesellschaftlichen Strömungen und Facetten zusammenbringt.
Eine solche Strategie zielt darauf ab, den Menschen die Armee – im Gegensatz zu den gescheiterten zivilen Institutionen – als Vorbild zu präsentieren, das die Stabilität des Landes schützen kann. Der Prozess, eine gemeinsame nationale Identität zu schaffen, entsteht entweder aus der Erfahrung eines Bürgerkriegs oder einem professionellen Militär. In Ägypten beispielsweise stellt sich die Armee als Retter des Volkes dar, der Sicherheit bietet, Terroristen bekämpft und außerdem die zivilen Märkte mit erschwinglichen Waren versorgt.
Daraus folgt, dass das Vertrauen in die Streitkräfte ein Ergebnis langfristiger Strategien ist, zu denen gehört, eine gemeinsame, auf der Armee beruhende nationale Identität aufzubauen, die Bereitstellung von Informationen zu verhindern und zu bestrafen, und die Offenheit gegenüber den Menschen einzuschränken.
Obwohl die Streitkräfte hohes Vertrauen genießen, bedeuten die Zahlen nicht, dass es innerhalb dieser Armeen keine Korruption gibt. Vielmehr deuten sie auf einen sehr tiefen Riss zwischen dem Militär und den Bürgern hin.
Abdalhadi Alijla
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Aus dem Englischen von Harald Eckhoff