Chronik einer angekündigten Auslöschung
Die "fürchterlichste Horrorgeschichte des 21. Jahrhunderts" sieht der UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock auf die syrische Provinz Idlib zukommen. Innerhalb von nur zwei Monaten zwang die Militäroffensive des syrischen Regimes und seiner Verbündeten über 900.000 Menschen in die Flucht. Doch für die die zwei bis drei Millionen Menschen in Idlib gibt es keinen Ausweg. Die Türkei hält ihre Grenzen geschlossen.
Wenn die einflussreichen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates weiterhin ihre Interessen über die Menschlichkeit stellen würden, werde Idlib in einen einzigen "Trümmerhaufen, übersät mit den Leichen von Kindern" verwandelt, so Lowcock.
Bis zu drei Millionen Menschen befinden sich in Idlib, die Hälfte davon vertrieben aus anderen Landesteilen. Es gibt an der Grenze noch nicht einmal mehr Zelte. So sind bei Minusgraden viele Familien schutzlos der Witterung ausgeliefert. Das Bild der anderthalbjährigen Laila, erfroren in den Armen ihres Vaters auf dem Weg ins Krankenhaus, wurde symbolisch für die verzweifelte Lage, in der sich die Menschen in Idlib befinden.
Bruch des Völkerrechts durch das Assad-Regime
Ob im Dezember 2016 der Fall von Aleppo, die Rückeroberung Daraas oder die qualvollen Monate der Offensive gegen Ghouta, immer wieder hat das syrische Regime im großen Stil Völkerrecht gebrochen und Menschenrechte missachtet. In Idlib hat es zudem Menschen auf der Flucht und Flüchtlingslager angegriffen, so dass die UN konstatiert, es gäbe keine sicheren Orte mehr.
Aus all den anderen Enklaven gab es immer noch einen Ausweg: nach Idlib deportiert zu werden. Doch von Idlib aus geht es nirgendwohin mehr weiter. Selbst, wenn die Menschen die Angriffe überleben, haben sie ihr Leben noch lange nicht gerettet, denn in Gebieten, die das Regime zurückerobert hat, verhört, verfolgt und verhaftet es nicht nur seine militanten Gegner, sondern auch diejenigen, die das zivile Leben in den Rebellengebieten aufrecht erhalten haben. Die Furcht davor lässt die Bewohner von Idlib trotz widrigster Bedingungen ausharren und auf ein Wunder hoffen.
Die einzige Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern, wäre ein Waffenstillstand. Theoretisch gibt es diesen – schon seit sich im Mai 2017 Russland, die Türkei und Iran auf Idlib als eine von vier "Deeskalationszonen" geeinigt hatten. Was zunächst als ein konstruktiver Vorschlag wirkte, um das Leid der Zivilbevölkerung zu mildern, entpuppte sich schnell als Teil einer Militärstrategie, die dem Regime erlaubte, seine Kräfte auf jeweils eine Front zu konzentrieren, und eine Oppositionsgebiet nach der anderen wieder einzunehmen.
Für die Türkei war Idlib wichtiger als die anderen Regionen. Wegen der Grenznähe sah Ankara die "Zone 1" als eine Art Sicherheitszone, die es vom Regime trennte und verhinderte, dass weitere Flüchtlinge in die Türkei kommen. Mittlerweile sind jedoch viele der Beobachtungsposten, die die Türkei als Wachtposten entlang der sogenannten "Sochi-Linie" errichtet hat, vom Regime umgangen und umlagert. Und letztlich war immer klar, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann Idlib angegriffen werden würde.
Ankaras Spiel mit dem Feuer
Problematisch für die Türkei ist, dass die Militäroffensive in Idlib nicht nur vom syrischen Regime sondern von Russland vorangetrieben wird. Außenpolitisch hat die Türkei sich in den letzten Jahren in zentralen Fragen von der EU, aber auch der NATO entfernt. Doch auch jenseits dessen kann Ankara im Falle einer Konfrontation mit Russland nicht auf deren Unterstützung hoffen, da westliche Staaten bei Russlands Intervention in Syrien stets auf Beschwichtigung gesetzt haben.
Trotz der massiven Verstärkung, die das türkische Militär nach Idlib geschickt hat, ist fraglich, was nach Ablauf des von Erdogan gesetzten Ultimatums für einen Rückzug von Regimekräften Ende Februar geschehen soll. In der Zwischenzeit erhöht die Türkei den Druck auf Assad niederschwellig, in dem es seine Kooperation mit den Rebellen verändert.
So dokumentiert Analyst Gregory Waters, dass in den vergangenen Monaten sehr viel mehr hochrangige syrische Militärs umkamen als zuvor, ein Umstand der nahelegt, dass die Rebellen über bessere Informationen verfügten. Zudem wurden in der vergangenen Woche zwei Hubschrauber des syrischen Regimes abgeschossen, mit Manpads, über die die syrischen Rebellen bis dahin nicht verfügten.
Hubschrauber haben in der Kriegsführung des Regimes einen besonderen Stellenwert, da nur mit ihnen Fassbomben ausgebracht werden können. Mit über 70.000 dieser improvisierten Sprengsätze hat das Regime seit August 2012 ganze Dörfer und Wohnviertel in Schutt und Asche gelegt. Sie sind aufgrund ihrer Sprengkraft besonders zerstörerisch und können nicht zielgerichtet eingesetzt werden, so dass der überwiegende Anteil der durch Fassbomben getöteten Zivilisten sind.
Putins uneingeschränkte Unterstützung für Assad
Dass der Abschuss zweier Hubschrauber genügt, um das Regime von weiteren Angriffen dieser Art abzuschrecken, zeigt, wie leicht es gewesen wäre, Hundertausende von Menschenleben in Syrien zu retten.
Zum jetzigen Zeitpunkt jedoch ist Russland entschlossen, dem Regime den Weg zu ebnen und intensiviert seine Bombardierungen mit Flugzeugen. Mit zielgerichteten Angriffen auf Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen verhindern Assad und seine Verbündeten, dass Kranke und Verwundete versorgt werden und entvölkern ganze Landstriche in einem nie gekannten Tempo.
"Bei vielen Orten, die das Regime in den letzten Tagen erobert hat, ist kein strategisches Interesse nachvollziehbar", sagt Chatham-House-Fellow Haid Haid. "Das Regime erobert sie, weil es das kann, denn wenn die Menschen schon vor den Luftschlägen geflohen sind, kann es die menschenleeren Orte kampflos übernehmen."
Er sieht in der bedingungslosen Unterstützung des Regimes durch Russland eine Änderung der Taktik: Russland habe dem Regime immer nur sehr begrenzte Fortschritte erlaubt, dann wieder Einhalt geboten. Derzeit jedoch ebne es der syrischen Armee den Weg zu möglichst großen Geländegewinnen.
Je dramatischer die Situation sich zuspitze, desto mehr Gewicht bekomme Russland in Genf. Mit seiner Luftunterstützung könne Russland der Welt auch ein weiteres Mal seine Entschlossenheit zeigen, bis zum Äußersten zu gehen.
Der Vorteil Russlands ist, dass es keine umfassende Strategie braucht. Angesichts der uneingeschränkten russischen Unterstützung des Regimes reichen minimale diplomatische Zugeständnisse; einen Plan zu einer Befriedung Syriens erwartet niemand aus Moskau. Während Russland frei entscheiden kann, wie sehr es sich engagiert, und eine Verschlechterung der Lage in Syrien Putin in die Hände spielt, sieht das für die Türkei als Nachbarstaat vollkommen anders aus.
Zwar hat Präsident Erdogan wiederholt angekündigt, Flüchtlinge aus Syrien als Druckmittel gegenüber Europa zu benutzen. Dennoch – zunächst würden diese in der Türkei ankommen und nur ein Bruchteil von ihnen wäre in der Lage, sich weiter nach Europa zu begeben. "Täglich erschießen die türkischen Grenzkontrollen Menschen, die versuchen, die Grenze zu übertreten – in der Berichterstattung kommt dies kaum vor. Selbst syrische Organisationen sprechen selten darüber, weil die meisten von ihnen in der Türkei sitzen", sagt Haid Haid.
Letztlich ist die Gewalteskalation in Idlib auch ein Ergebnis der Spannungen zwischen der Türkei und Russland. Zwar hatte Russland einige Konzessionen zugunsten der Türkei gemacht. Ein Beispiel ist die nach zähem Ringen im UN-Sicherheitsrat erlangte Verlängerung der grenzüberschreitenden Hilfe für Syrien Mitte Januar. Russland blockierte dies Hilfen über den Irak oder Jordanien, machte für die Türkei jedoch eine Ausnahme. Aber kurz darauf erklärte Erdogan, er werde syrische Milizen nach Libyen schicken, wo Russland und die Türkei sich ebenfalls auf unterschiedlichen Seiten des Konfliktes finden.
Größtmögliches Leid als Strategie
Die Leidtragenden sind diejenigen in Idlib, die sich in einer ausweglosen Situation zwischen verschiedensten Interessen befinden. Assad hat mehrfach erklärt, er werde "jeden Zentimeter syrischen Bodens" wiedererobern. Er möchte das Land, aber nicht die Leute. Deswegen ist Teil seiner Strategie, größtmögliches Leid zu verursachen, um möglichst viele potentiell Aufständische loszuwerden und Rückkehrer abzuschrecken. Diese Strategie geht auf, wie die Bilder der "humanitären Korridore" zeigen: Trotz der grauenhaften Zustände in Idlib flieht niemand in Regimegebiete.
Schon jetzt hat das Regime rund ein Drittel Idlibs eingenommen. Auch wenn es vorstellbar ist, dass die Türkei sich auf ein kleineres Gebiet als "Sicherheitszone" einlassen würde: Um diese zu versorgen, wäre ein Mindestmaß an lokaler Infrastruktur notwendig, die mit jeder Einnahme einer Stadt durch das Regime schwindet.
Dem syrischen Regime ist egal, was mit den Menschen passiert. Es ist für keines seiner Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden, ob Chemiewaffeneinsatz oder Tausende von Toden unter Folter in Haft. Durch die russische Unterstützung seines Vorgehens in Idlib ist klar, dass Assad auch diesmal nichts zu fürchten hat.
Hunderttausende von Toten schrecken die Verbündeten nicht. Zumal der Zeitpunkt perfekt gewählt ist: Die Öffentlichkeit ist des Kriegs und der verstörenden Nachrichten aus Syrien müde, Politiker haben schon lange wenig Ambition, sich an der Unnachgiebigkeit der Despoten aufzureiben.
Auch, wenn die derzeitigen Grausamkeiten nur eine Ahnung davon vermitteln, was den Bewohnern Idlibs nach Assads Sieg bevorsteht: Europas Wille, sich zu diesem Zeitpunkt einzumischen, könnte nicht geringer sein.
Wenn die Vereinten Nationen und europäische Staaten die Menschen in Syrien nicht schützen können, wäre die einzig andere logische Konsequenz, ihnen die Flucht in die Sicherheit zu ermöglichen. Bislang hat sich jedoch kein Staat dazu bereit erklärt, Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen zu wollen. Europäische Regierungen scheuen sich, der aggressiven Politik Russlands in der Region etwas entgegenzusetzen, lassen sich jedoch auch von den erstarkten rechten, flüchtlingsfeindlichen Strömungen so weit einschüchtern, dass sie keinen Mut zu großen humanitären Gesten haben. Genau diese wären jedoch erforderlich.
Bente Scheller
© Qantara.de 2020
Bente Scheller übernahm im September 2019 die Referatsleitung Nahost und Nordafrika. Von 2012 bis 2019 leitet sie das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Zuvor leitete sie das Büro in Afghanistan. Im Februar 2013 erschien ihr Buch "The Wisdom of Syria's Waiting Game: Foreign Policy Under the Assads".