Palästinensische Perspektiven
Palästinenser sind es gewohnt, dass über sie gesprochen wird. Die Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästina gehört zu den langwierigsten Konflikte der modernen Geschichte und erlebt gerade eine seiner schlimmsten Eskalationen.
Was Palästinenserinnen und Palästinensern zusteht, wovon sie sich distanzieren sollen, wo sie leben dürfen und wofür sie sterben müssen, dazu scheint aktuell jeder eine Meinung zu haben. Aber wie blicken Palästinenserinnen und Palästinenser selbst auf die Welt? Nicht nur auf Vertreibung, Staatenlosigkeit oder das Leben unter israelischer Besatzung, sondern auf Ukraine-Krieg oder Klimakrise? Oder, persönlicher, auf Familie, psychische Gesundheit, Sexualität?
Die palästinensische Bevölkerung ist weltweit verstreut, nur etwa die Hälfte lebt im ehemaligen britischen Mandatsgebiet. Existieren dennoch Gemeinsamkeiten zwischen palästinensischen Perspektiven in Gaza, der Westbank oder Israel, in der Diaspora in den USA, Europa oder arabischen Staaten?
Die Mission ist aktueller denn je
Das Magazin Fikra will palästinensischen Sichtweisen nachgehen. Gegründet wurde es im August dieses Jahres, als noch nicht absehbar war, wie verheerend die Lage vor Ort nur wenige Monate später sein würde. Seit den Hamas-Angriffen auf Israel am 7. Oktober greift die israelische Armee mit massiver Härte den Gazastreifen an. Parallel dazu haben radikale Siedler in der Westbank Dutzende Menschen getötet.
Doch auch jetzt ist die Mission des Magazins aktueller denn je. Fikra, arabisch für Idee, veröffentlicht Essays, Gedichte, Comics, Prosa oder visuelle Kunst von Palästinensern aus aller Welt.
Es soll eine Plattform sein, auf der die verstreute Community zusammenfindet, um "zu diskutieren, zu reflektieren, Fragen zu stellen und zu träumen“, sagt Chefredakteurin Aisha Hamed. Denn persönlich werden sich Menschen aus Gaza und Berlin oder aus dem Libanon und dem Westjordanland in absehbarer Zukunft wohl kaum zu solchen Debatten treffen können.
Hamed, 31, hat Fikra gemeinsam mit ihrem Partner Kevin Kruiter, 30, gegründet. Die Entscheidung, ihre Jobs beim niederländischen Außenministerium zu kündigen, von Amsterdam nach Ramallah zu ziehen und ein Kulturmagazin zu gründen, trafen die beiden während eines Heimatbesuchs in Nazareth im März 2022.
Schwindende Freiräume
Aisha Hamed, deren Vater Palästinenser ist, hatte seit Jahren darüber nachgedacht, in dessen Heimat zurückzukehren. Als Diplomatin sei es ihr oft schwergefallen, ihre persönlichen Ansichten mit der offiziellen diplomatischen Linie der niederländischen Regierung in Einklang zu bringen, erzählt sie.
Während seines Aufenthalts in Nazareth traf das Paar aus Amsterdam zahlreiche Menschen aus der Kulturszene. "Sie berichteten von einer zunehmenden Einschränkung der Meinungsfreiheit und von schwindenden Freiräumen für die Zivilgesellschaft“, erinnert sich Hamed bei einem Zoom-Call im Juni.
Es gebe sowohl Angst vor Repressionen durch die Palästinensische Autonomiebehörde in der Westbank und vor Zensur durch die Behörden im israelischen Staatsgebiet. Die beiden beschlossen, eine unabhängige Plattform zu gründen, auf der auch provokante und kontroverse Themen Platz finden sollten. "Es ist ein Minenfeld, in dem wir uns vorsichtig bewegen“, sagt Hamed. "Aber manchmal müssen wir Grenzen auch überschreiten, um sie zu verschieben.“
Die Fikra-Redaktion hat entschieden, keine staatliche Förderung anzunehmen, "damit wir weder zensiert werden noch uns selbst zensieren“, erklärt Kevin Kruiter. Das erste Jahr wurde durch Crowdfunding finanziert. Die beiden verdienen nichts daran, legen aber Wert darauf, alle Beiträge zu honorieren.
Oft ist das gar nicht so einfach: Geld an Kulturschaffende in Gaza zu überweisen, sei so gut wie unmöglich, sagte Hamed schon vor der weitreichenden Zerstörung des Gazastreifens seit dem 7. Oktober. Dort bekamen die Autorinnen und Autoren das Honorar bar über gemeinsame Kontakte. Generell gebe es bei Überweisungen in die Palästinensischen Gebiete oft Probleme: "Die Banken vermuten direkt, dass man Terrorismus finanziert.“
Von Lyrik bis Graphic Novel
Anfang August ist die erste Ausgabe von Fikra online erschienen, einige der Beiträge auch gedruckt. Die Hefte wurden beim Launch des Magazins in Ramallah verkauft. Ob es weitere gedruckte Ausgaben geben oder Fikra künftig nur im Netz erscheinen wird, ist noch unklar. Fest steht aber, dass jede Woche drei Beiträge erscheinen sollen, alle sowohl auf Arabisch als auch auf Englisch.
Geplant sind sowohl klassische Textformate wie Essays, Lyrik oder Prosa als auch Ausschnitte aus Graphic Novels, Comics und viel visuelle Kunst. "Damit wollen wir einer kreativen, jungen Generation gerecht werden, die immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen ist“, sagt Hamed.
In der ersten Ausgabe von Fikra gibt es zum Beispiel eine Fotostrecke über die Auswirkungen von Gewalt auf Individuen und Gemeinschaften. Ein Gedicht beschäftigt sich mit der Tötung eines geliebten Menschen, und in einem Essay thematisiert eine Autorin generationenübergreifende Traumata: "Alle Palästinenser werden als Historiker geboren“, schreibt sie.
"Wenn wir auf die Welt kommen, sind die Geschichten unser Vorfahren schon in uns verschlüsselt. Unsere Großeltern und Eltern helfen uns, eine Enzyklopädie unserer selbst aufzubauen, die wir dann mit unseren eigenen Erinnerungen füllen. Manche sind dunkel, andere hell.“
"Die Besatzung spielt fast immer eine Rolle"
Die Themen in Fikra sind breit gefächert. Einzige Regel: 90 Prozent der Beiträge müssen von Personen kommen, die sich selbst als palästinensisch identifizieren.
Die Autoren und ihr Publikum leben in unterschiedlichen Ländern, ihr Bezug zur palästinensischen Kultur ist unterschiedlich stark, und manche sprechen gar kein Arabisch. Was aber vereint sie? "Die Besatzung spielt in fast jedem Beitrag eine Rolle“, sagt Hamed.
Damit einher gingen Themen wie Trauma – wie man damit umgeht, wie Kunst dabei helfen kann – und Einsamkeit, vor allem in der Diaspora: "Das Gefühl der Entfremdung von der Gesellschaft, in der man lebt, ebenso wie von der, aus der man eigentlich kommt.“ Widerstand sei ebenfalls ein wichtiges Thema, ergänzt Kruiter, "die Auflehnung gegen eine unmenschliche Situation“.
Wenige Monate nach dem Gespräch mit Hamed und Kruiter ist die Situation noch unmenschlicher geworden. Mehr als zehntausend Menschen im Gazastreifen wurden nach Angaben von UN-Organisationen durch die Luftangriffe der israelischen Armee getötet, 40 Prozent davon Kinder. Den wenigen Krankenhäusern, die noch arbeiten können, fehlt es an Medikamenten und Treibstoff, die Bevölkerung hungert, weil kaum humanitäre Hilfe nach Gaza gelassen wird. Kann man in so einem Moment überhaupt ein Kulturmagazin betreiben?
Auf der Suche nach Heimat
In seinem Romandebüt "Flügel in der Ferne“ lässt der preisgekrönte französische Autor Jadd Hilal vier Frauen aus vier Generationen von ihrem ruhelosen Leben zwischen palästinensischer Heimat und Exil erzählen. Von Volker Kaminski
Die Geschichten geben Trost
"In den ersten paar Wochen nach dem Angriff der Hamas standen wir unter Schock“, sagt Hamed in einem E-Mail-Austausch im November. "Nach einer Weile erreichten uns immer mehr Nachrichten von Palästinensern aus aller Welt, die sagten, dass unsere Geschichten ihnen Trost geben und dass sie die Arbeit des Magazins unterstützen wollen.“
Da einige der regelmäßigen Redaktionsmitglieder aufgrund der aktuellen Lage ohnehin nicht arbeiten konnten – aus persönlichen Gründen oder aus Angst vor Zensur und Verfolgung – stellte das Fikra-Team spontan eine Redaktion aus freiwilligen Helfern zusammen. Sie teilen sich die Arbeit auf, "kommen in Zeiten der Einsamkeit zusammen“ und können neue Artikel und Gedichte publizieren, die sich mit den aktuellen politischen Entwicklungen beschäftigen.
"Uns ist aufgefallen, dass die Beiträge der letzten Wochen sehr roh sind: Sie sprechen von Verzweiflung, Kummer, Wut und Einsamkeit“, meint Aisha Hamed. Gleichzeitig spiegelten sie eine gewisse Resilienz wider: “Manche ehren ihre Familien in Gaza, indem sie über deren Wahrnehmung schreiben; anderen ist es wichtig, dass unsere Stimmen nicht zum Schweigen gebracht werden.“
Kritik an den Zuständen unter israelischer Besatzung kam insbesondere in Europa und den USA noch nie gut an. In Deutschland wird die Diskussion über den Nahostkonflikt aufgrund der historischen Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden zu Recht mit Vorsicht geführt. Doch oft wird Menschen, die sich für die Rechte von Palästinensern einsetzen, pauschal Antisemitismus unterstellt.
Angesichts des aktuellen Konflikts gab es hierzulande eine Welle der Zensur und Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Menschen verloren ihre Jobs, weil sie sich solidarisch mit Palästinenserinnen und Palästinensern zeigten. Einer Kulturinstitution, die mit einer linken jüdischen Gruppe zusammenarbeitete, wurde das Funding entzogen. Demos wurden zahlreich verboten.
Ein Magazin wie Fikra dürfte daher auch auf Kritik stoßen. Doch das ist der Redaktion egal: "Wir Palästinenser sind ständig darum bemüht, uns anzupassen“, sagt Hamed. "Immer wenn wir unsere Geschichten erzählen, müssen wir vorher betonen, dass wir keine Terroristen oder Antisemiten sind.“ Eigene Gefühle und Traumata stünden dabei hinten an. "Das wollen wir im Fikra Magazin umkehren.“
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