Kreatives Erwachen
Seit einem Jahr gehen in Syrien Menschen auf die Straßen, um ihre Rechte als Bürger einzufordern. Von Anfang an war es im besonderen Maße eine Revolution der Marginalisierten, der einfachen Menschen, deren Hoffnungen auf ein besseres Leben in den letzten Jahre wieder und wieder enttäuscht wurden, während immer mehr Neureiche, die meist dem Regime in Damaskus nahe stehen, immer mehr Besitz anhäuften.
In Syrien haben sich Künstler und Intellektuelle recht früh mit den Demonstranten solidarisiert, waren aber nicht unbedingt die treibende Kraft des Aufstandes gegen Assad.
Es ist, wie die syrische Filmemacherin Hala Alabdallah sagt, eine "wirkliche Revolution aus dem Volk heraus, die Revolution eines Volkes, das nach 40 Jahren der Unterdrückung erwacht". Der Kampf findet an sehr unterschiedlichen Fronten statt: auf den Straßen und Plätzen der syrischen Städte, in den Häusern und im virtuellen Raum.
Strategien gegen Despoten
Die Proteste in Syrien stellen sich völlig anders dar als etwa die Aufstände in Ägypten und Tunesien. In jenen arabischen Staaten war es vor allem die konzentrierte Masse der Menschen auf den Straßen und Plätzen, die letztlich den Fall der Diktatoren herbeiführte. In Syrien dagegen waren die Demonstranten von Anfang an gezwungen, neue Formen des Protestes zu wählen, da eine größere Menschenansammlung auf zentralen Plätzen ein leichtes Ziel der Armee und der Sicherheitskräfte gewesen wäre.
Erfindungsreichtum und Kreativität waren daher gefragt. In Syrien setzte man vor allem auf den Überraschungseffekt. Nicht nur Intellektuelle, sondern auch ganz gewöhnliche Syrer waren an diesen kreativen Formen des Widerstandes bislang aktiv beteiligt.
Ein Beispiel: Auf Youtube finden sich neben den unzähligen Aufnahmen von Gräueltaten und Verstümmelungen von Menschen auch immer wieder kurze Videos, die das Tagesgeschehen kommentieren oder die Hoffnungen der Bevölkerung reflektieren. So gibt es performanceartige Inszenierungen, die das jüngste Verfassungsreferendum als Farce erscheinen lassen, indem Wähler ihren ausgefüllten Stimmzettel direkt in einen Müllcontainer (und nicht in eine Wahlurne) werfen.
Auch existieren Videos, die die offiziellen Darstellungen und Berichte der syrischen Staatsmedien aufs Korn nehmen. Ganz im Stile des "Undercover-Journalismus" zeigt ein anderes Video eine "Terrorzelle", die mit Geschossen aus Auberginen und Okraschoten in den Kampf zieht.
Die blutroten Fontänen von Damaskus
Neben diesen virtuellen Inszenierungen gab es immer wieder auch Aktionen im öffentlichen Raum: Die Fontänen von Damaskus wurden durch Hinzufügen von Farbe blutrot getränkt. Diese Aktion wiederholte sich mehrfach, bis das Wasser schließlich abgestellt werden musste.
Ein anderes Mal wurde mit Hilfe einer Laserkanone der Präsidenten-Palast "beschossen", Aktivisten ließen Tischtennis-Bälle mit aufrührerischen Slogans den Qassioun-Berg herunterrollen und immer wieder stiegen Luftballons mit Freiheitsbotschaften in den Himmel. Musik, Gesang und Tanz wurden schnell zu tragenden Elementen des Widerstands, der damit eine neue Dimension erreichte: Ganze Straßenzüge übten sich im kollektiven "Dabke"-Volkstanz - jenseits von Amüsement und Unterhaltung.
Besondere Bekanntheit erlangte der Amateur-Liedermacher Ibrahim Qashoush, dessen Song "Yalla irhal ya Bashar!" ("Los, verschwinde Bashar!") zum Soundtrack der Massenproteste in Hama Anfang Juli letzten Jahres wurde und der kurze Zeit später ermordet aufgefunden wurde.
Zwar konnte das Regime den Verfasser des Liedes ausschalten, nicht aber sein Werk. Es avancierte zur inoffiziellen Hymne der Revolution und war immer wieder während der Demonstrationen zu hören. So auch lautstark aus Rekordern, die während einiger Aktionen in einigen syrischen Städten versteckt aus Mülleimern erklang.
Als Werk anonymer Aktivistengruppen sind solche Aktionen Beispiele dafür, wie die Proteste in Syrien zu einer Wiederentdeckung des öffentlichen Raumes als Ort für die (Neu-)Verhandlung von Ideen geführt haben. Der öffentliche Raum entwickelte sich schlagartig zu einem Ort des politischen Diskurses und der Artikulation kollektiver Projekte für Freiheit und Bürgerrechte. Straßen und Plätze wurden von den Menschen wieder in Besitz genommen.
Politisierung des öffentlichen Raums
Der Kontrast zur früheren Nutzung des öffentlichen Raums könnte kaum größer sein - zu einer Zeit, als jeder sich unauffällig und vorsichtig durch den öffentlichen Bereich bewegte, immer wachsam und immer mit dem Gefühl, bei jedem Schritt kontrolliert zu werden.
Immer noch agieren die meisten Aktivisten anonym. Entweder hofft man auf die Anonymität, die eine größere Menschenmenge bietet, oder es werden Kollektiv- oder Decknamen verwendet. Demonstranten treten oft vermummt in Erscheinung. Und viele Frauen, die üblicherweise unverschleiert sind, legen bei Kundgebungen einen Gesichtsschleier an.
Welche Gefahren lauern können, wenn nur allzu offen signalisiert wird, dass man den Aufstand unterstützt, zeigen Fälle wie Ibrahim Qashoush und Ali Farzat. Der Karikaturist, der sich offen auf die Seite der Revolution gestellt hatte, wurde im August letzten Jahres überfallen und zusammengeschlagen. Man brach ihm daraufhin bewußt die Hände. Qashoush wurden, nachdem man ihn getötet hatte, die Stimmbänder herausgerissen.
Schutz der Anonymität
Diese Gefahren machen deutlich, wie wichtig der Schutz der Anonymität bleibt. Und dieser Schutz gibt den kreativen Internet-Aktivisten ihre Freiheit. So konnten Kollektive wie "Abou Naddara" entstehen, die mit kurzen Filmen die Revolution von Anfang an begleitet haben, dabei bewusst auf Gewalt verzichten und stattdessen auf künstlerische Qualitäten setzen.
Auch die Gruppe "Masasit Mati", deren satirisches Fingerpuppen-Theater mittlerweile international bekannt ist, kann nur durch den Schutz des virtuellen Raumes existieren. Er ermöglicht Künstlern, Filmemachern und Internetaktivisten, eine neue, deutlichere Sprache zu sprechen. Früher mussten sie ihre sozialkritischen, politischen Produktionen in Metaphern und Symbolen verpacken, um somit die Zensur zu umgehen.
Noch sind reflektive Arbeiten von etablierten Künstlern und Filmemachern, die sich mit der Revolution beschäftigen, eher selten. Einige haben aber, hier auch gelegentlich unter anderem Namen, kurze Arbeiten erstellt, um ihre Solidarität mit den Assad-Gegnern kund zu tun. Oft greifen sie auf einfachste technische Mittel zurück und reflektieren damit wiederum die veränderte visuelle Kultur, wie sie durch die Aktivisten-Videos geprägt wurden.
Es gibt derzeit auch mehrere größere Projekte, die in der Enstehungsphase sind. Der Journalist und Filmemacher Mohammad Ali Atassi arbeitet an einem Projekt, in dem die besondere Rolle von Skype in der syrischen Revolution zur Sprache kommt.
Ein anderes Projekt von einer anonym agierenden Künstlergruppe stellt eine Porträtreihe syrischer Städte vor, die zuletzt vor allem wegen der dortigen Proteste für Aufsehen georgt haben und meist dafür einen hohen Preis zahlen mussten. Die Städteporträts wurden sehr sensibel gefilmt, die Wunden dieser Orte und ihrer Menschen behutsam gezeigt. Im Fokus dieser Filme stehen die Menschen mit ihren Hoffnungen, Erinnerungen und Enttäuschungen.
Seit der brutalen Bombardierung von Homs, gibt es derzeit wenig Anlass für Optimismus. Viele sind der Meinung, dass das Schlimmste noch bevorsteht. Aber fest steht, dass Syrien sich unwiderruflich verändert hat, die Syrer haben sich neu entdeckt. Oder wie ein junger Filmemacher sagte: "Syrien hat sich gewandelt. Jetzt geht man in ein Café und alle schimpfen lautstark gegen die Regierung. Die lähmende Angst von einst ist verschwunden!"
Vor wenig mehr als einem Jahr war dies noch vollkommen undenkbar. Wie hoch aber der Preis sein wird, bis die Träume von einem freien Land wirklich wahr werden, ist leider bisher noch immer nicht absehbar.
Charlotte Bank
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