Assads Unterdrückungsapparat vor Gericht
Es wird schwer werden in Koblenz, am Oberlandesgericht, das so idyllisch direkt am mächtig dahinströmenden Rhein liegt. So unendlich weit weg von den Gräueln syrischer Folterkeller. Es wird schwer werden für die wenigen Zuhörer, die trotz der Beschränkungen wegen der Corona-Krise einen der knappen Plätze im Saal 128 ergattern.
Sehr viel schwerer noch wird es für die Zeugen. Sie müssen sich an Qualen erinnern, die sie am liebsten vergessen würden, wenn sie nur könnten. Sie müssen von Folter sprechen, von Schmerzen, die sich niemand ausmalen kann, der sie nicht erlebt hat.
Sie müssen von unfassbaren Erniedrigungen, von extremer Entmenschlichung berichten, erfahren am eigenen Leib. Von diesem Donnerstag an wird über viele Monate gesprochen werden über monströse Auswüchse einer Unterdrückungsbürokratie, geschaffen zu dem einen Zweck: die Macht des Assad-Clans in Syrien zu erhalten, um jeden Preis.
Ein Oberst und sein Untergebener
Hochrangiges Mitglied dieses Unterdrückungsapparates war der 57-jährige Anwar R. Er ist der Hauptangeklagte. Im Rang eines Oberst leitete er die Abteilung 251 des syrischen Geheimdienstes, war zuständig für die Sicherheit der Hauptstadt Damaskus. In untergeordneter Position hat auch der zweite Angeklagte, Eyad A., in der Abteilung 251 gearbeitet. Dieser Abteilung angeschlossen war ein Gefängnis.
In diesem Gefängnis, so der Vorwurf der Anklage, seien unter Leitung von Anwar R. innerhalb von rund 500 Tagen zwischen April 2011 und September 2012 mindestens 4.000 Häftlinge gefoltert worden. Die Anklage listet unter anderem Vergewaltigung, schwere sexuelle Nötigung, Schläge, Tritte und Elektroschocks auf. Mindestens 58 Inhaftierte sollen die massiven Misshandlungen nicht überstanden haben und gestorben sein. Eyad A. wird Mithilfe zur Folter in mindestens 30 Fällen vorgeworfen.
Weltweit erster Prozess gegen Assad-Regierung
Es ist das erste Mal weltweit, dass sich Angehörige des syrischen Regimes wegen des Vorwurfs, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, vor Gericht verantworten müssen. Dass überhaupt deutsche Staatsanwälte vor deutschen Gerichten Syrer anklagen, die in Syrien andere Syrer gefoltert und ermordet haben sollen, wird durch das Völkerstrafgesetzbuch möglich. Das trat in Deutschland im Juni 2002 in Kraft. Im deutschen Völkerstrafgesetzbuch gilt das sogenannte "Weltrechtsprinzip". Das heißt, die deutsche Justiz kann Völkerrechtsverbrechen auch dann aufarbeiten, wenn sie nicht in Deutschland begangen wurden und Deutsche weder Täter noch Opfer sind.
Obwohl der Tatort weit entfernt liegt, ist die Beweislage gut. Es gibt Zeugen. Viele kamen als Flüchtlinge nach Europa, auch nach Deutschland. 16 Frauen und Männer werden in dem Verfahren unterstützt vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Neun von ihnen treten Anwar R. im Gerichtssaal als Nebenkläger entgegen.
Der Jurist Wolfgang Kaleck hat die Berliner Menschenrechtsorganisation gegründet. Er weiß, wie wichtig den Folteropfern die juristische Aufarbeitung des Unterdrückungssystems ist. Im Gespräch mit der DW zitiert Kaleck die Bemerkung eines Gefolterten: "Ich bin hier 2015 als Geflüchteter hergekommen, als Mensch ohne Rechte, ohne irgendeine Art von existenzieller Sicherheit. Diese Art von Prozess gibt mir den Status eines handelnden Subjekts zurück."
"Ordentlicher Unrechtsstaat"
Die Beweislage ist auch deshalb gut, weil Syrien, wie Kaleck es ausdrückt, ein "ordentlicher Unrechtsstaat" ist: "Es ist ein Unrechtsstaat, der nach bestimmten Regeln funktioniert", führt er aus: "Und wenn jemand eine bestimmte Funktion innehatte, wie der Hauptangeklagte, der eine sogenannte 'Investigation Unit' geleitet hat, also eine Einheit, in der massiv gefoltert wurde, dann kann man ihm natürlich ein bestimmtes Maß an Verantwortung zurechnen." Für Kaleck ist der Prozess gegen Anwar R. der "Einstieg in die systematische Aufarbeitung der Verbrechen der Assad-Regierung, insbesondere der systematischen Folter".
Tatsächlich ermittelt die deutsche Justiz schon seit 2011 zu den Verbrechen des Assad-Regimes. Da begann die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe mit einem sogenannten Strukturverfahren. Wann immer sich darin genügend Hinweise auf einzelne Personen ergeben, wird gegen sie ein gesondertes Ermittlungsverfahren eingeleitet, bisher bei rund 20 hohen Funktionären des syrischen Staatsapparates.
Prominentester Fall: Der frühere Chef des syrischen Luftwaffengeheimdienstes, Jamil Hassan, wird seit 2018 mit internationalem Haftbefehl gesucht. Der Haftbefehl geht auch auf eine Strafanzeige des ECCHR zurück und wurde in Syrien "von beiden Communities rezipiert", berichtet Wolfgang Kaleck: "von denen, die gelitten haben, aber auch von denen, die den Unrechtsstaat betrieben haben".
Die "War Crimes Unit" des BKA
Zusammengetragen werden die Beweise von der "War Crimes Unit" des Bundeskriminalamtes. Im Beamtendeutsch wird sie etwas umständlich "Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafrecht" genannt (ZBKV). "Deutschland darf kein sicherer Hafen für Kriegsverbrecher sein", das ist der Leitsatz der Beamten in ihrem hochgesicherten Betonbau im beschaulichen Meckenheim bei Bonn.
Entscheidende Hilfe bekamen die Ermittler unter anderem von einer in den Niederlanden beheimateten Stiftung: Die "Kommission für internationale Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht" - Commission for International Justice and Accountability (CIJA) - hat nach Beginn des Syrien-Krieges Hunderttausende geheime Regierungsdokumente aus Syrien herausgeschmuggelt.
Mehrere Dutzend Analysten durchforsten die Unterlagen seither auf strafrechtlich relevante Vorgänge und legen Dossiers an, finanziell auch unterstützt von der deutschen Regierung. Die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" berichtet, die CIJA-Experten hätten, als die Ermittler bei ihnen nach Material zu Anwar R. anfragten, bereits eine ganze Akte angelegt gehabt.
Vom Folterer zum Widerständler
Der 57-jährige Hauptangeklagte mit der Halbglatze ist eine schillernde Figur. Er macht eine Bilderbuchkarriere innerhalb des syrischen Sicherheitsapparates, bevor er Herr über Leben und Tod im Gefängnis der Abteilung 251 in Damaskus wird. Aber Ende 2012 wendet sich Anwar R. gegen das Regime. Er setzt sich mit seiner Familie ins Ausland ab. Er berät den syrischen Widerstand, nimmt eine prominente Rolle innerhalb der Opposition ein.
Im Sommer 2014 kommt der ehemalige Geheimdienstoberst mit seiner Familie nach Deutschland, beantragt Asyl, erhält eine Aufenthaltserlaubnis, findet eine Wohnung im Nordosten Berlins. Weil er sich vom syrischen Geheimdienst verfolgt fühlt, wendet er sich an die deutsche Polizei. Die befragt ihn ausführlich und Anwar R. gibt bereitwillig Auskunft, auch über seine Zeit in Syrien.
Anscheinend hatte Anwar R. nicht mit Strafverfolgung gerechnet, erfährt die DW aus Ermittlerkreisen. Er habe seine Geschichte ohne erkennbares Unrechtsbewusstsein geschildert. Nach monatelangen Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt wird Anwar R. am 12. Februar 2019 verhaftet.
Gesamtbild des Unterdrückungsregimes
Der politische Gesinnungswandel des Geheimdienstmannes dürfte in dem Prozess keine Rolle spielen, erläutert der Jurist Kaleck mit einem Fachbegriff: "Das ist das sogenannte Nachtat-Verhalten. Wenn jemand nach der Tat sich ein Stück weit davon distanziert, mag das zu würdigen sein. Aber auf der anderen Seite: Anwar R. wird für 4.000 Folterungen und 58 Morde verantwortlich gemacht. Das ist durch einen politischen Meinungswechsel natürlich nicht aufzuwiegen."
Die Erwartungen an den Prozess in Koblenz sind hoch. Die Taten der beiden Angeklagten sollen im Kontext des syrischen Machtapparates ausgeleuchtet werden. Im besten Fall könnte ein Gesamtbild des Unterdrückungsregimes entstehen. Darauf könnten auch andere Instanzen für andere Prozesse zugreifen, an anderen Orten. Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft bekräftigt: "Was wir an Beweisen sammeln, bleibt für Jahrzehnte erhalten."
Matthias von Hein
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