Junge Türken und ihr Sehnsuchtsort Deutschland
In der Türkei wird wieder ein altbekanntes Thema diskutiert: Die Abwanderung der Talente - oder auf Türkisch "beyin göcü" ("Gehirn-Abwanderung"). Immer mehr kluge Köpfe aus der Türkei können sich eine Zukunft im Ausland vorstellen und viele haben ihrer Heimat bereits den Rücken gekehrt. Kritiker sagen, dass die Regierung von Recep Tayyip Erdogan diesen Trend selbst befördere, indem sie Qualifizierten zu wenig Perspektiven biete und sie sogar stigmatisiere.
Diese Kritik wurde mit Blick auf die Bogazici-Proteste wieder lauter. An der renommierten Istanbuler Bogazici-Universität demonstrierten zuletzt Studentinnen und Studenten gegen die Einmischung Erdogans bei der Ernennung eines unbeliebten Direktors; die Polizei unterdrückte gewaltsam zahlreiche Versammlungen von Studierenden. Die jungen Türken wurden von Regierungsvertretern als "Terroristen" und "Perverse" diffamiert.
Kritiker mahnen, auch solche Anfeindungen trugen dazu bei, dass junge Türkinnen und Türken auswandern. Eine aktuelle Umfrage des türkischen Forschungsinstituts Metropoll bestätigt genau diesen Trend: 47 Prozent der Türken würden danach gerne im Ausland studieren oder arbeiten. Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass vor allem Universitätsabsolventen und hochqualifizierte Arbeitskräfte das Land verlassen, um "ganz von vorne anzufangen", wie es oft heißt.
"Wir wollen einfach nur Respekt"
Zeki Öztürk, der an der prestigeträchtigen Technischen Universität des Nahen Ostens (ODTÜ) in Ankara Philosophie studiert hat, entschied sich zunächst, nach einem Studienaufenthalt an der Berliner Humboldt-Universität in seine Heimat zurückzukehren.
Aber aufgrund der zunehmenden politischen Repressionen ging er 2017 wieder nach Deutschland.
Wie viele junge Türken ist er mit der Situation in seiner Heimat unzufrieden.
"Wir wollen einfach nur Respekt. Menschen, die eine gute Ausbildung absolvieren, haben früher mehr Anerkennung bekommen. Heute kann man so gut ausgebildet sein, wie man will – man wird nicht mit Respekt behandelt."
Seine Heimat habe sich negativ entwickelt, so Öztürk. "Die Türkei hat nicht nur ein einziges Profil, nicht nur einen einzigen Glauben. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Mosaik. Trotzdem werden keine abweichenden Meinungen mehr akzeptiert. Bald wird es soweit sein, dass auch die Anwesenheit mancher Menschen nicht mehr akzeptiert wird", fürchtet er.
In der Türkei "konnte ich ihm keine Kindheit wie meine eigene anbieten"
Für Ezgi Ünsal, die an der ODTÜ Lebensmitteltechnik studiert hat, war für die Auswanderung nach Deutschland ausschlaggebend, dass sie Mutter wurde.
Ünsal lebt seit vergangenem Jahr mit ihrem Mann und ihrem fünfjährigen Sohn in Düsseldorf und arbeitet dort für eine globale Lebensmittelkette. "Mir war klar, dass ich ihm keine Kindheit wie meine eigene bieten konnte", sagt sie über ihren Sohn.
Früher sei es in der Türkei üblich gewesen, dass Studenten auf die Straßen gingen, um zu protestieren; heute dagegen würde sie als Mutter in der Türkei versuchen, ihr Kind daran zu hindern, an Studentenprotesten teilzunehmen. Es sei für ihren Mann und sie ein großes Bedürfnis, dass ihr Kind in einem Umfeld aufwächst, wo es sich frei ausdrücken kann.
"Die akademische Freiheit geht verloren"
Auch Selim Özgen ist ein hochqualifizierter Uni-Absolvent, der gerade versucht, sich in Deutschland neu zu erfinden. Er hat an der Bogazici-Universität studiert und anschließend an der ODTÜ promoviert.
Seit 2017 lebt er in Deutschland. "Besonders während der Gezi-Proteste im Jahr 2013 musste ich enttäuscht feststellen, dass diejenigen, die etwas kritisieren, unter Druck gesetzt werden", so Özgen.
Die Unterdrückung der Proteste an der Bogazici-Universität seit Anfang des Jahres habe ihm noch einmal klar gemacht, dass es für die Regierung keine Zurückhaltung mehr gebe, wenn sie sich herausgefordert fühle. Er sei besorgt darüber, dass die akademische Freiheit immer mehr verloren gehe.
"Wenn sie einmal weg ist, kann sie nicht leicht zurückkehren. Das wird verheerende Auswirkungen haben", warnt Özgen. Dennoch sei es sehr schwer für ihn gewesen, die Türkei zu verlassen, da er seine Verwandten und Angehörigen zurücklassen musste.
"Zu wenig Perspektiven"
Auch Oya Aytürk entschied sich, im Ausland "bei null anzufangen". Sie lebt in Frankfurt und ist ebenfalls Absolventin der Bogazici-Universität.
Direkt nach ihrem Master-Studium nahm sie in Deutschland eine Stelle an und baute sich ein neues Leben auf. "'Ich werde ein paar Jahre arbeiten und dann zurückkommen', habe ich mir immer gesagt. Doch nun sind bereits zehn Jahre verstrichen. Ich habe nie die Motivation gefunden, zurückzukehren."
Aytürk kritisiert, dass jungen Berufstätigen in der Türkei zu wenig geboten werde, sie könnten ihre Potenziale nicht ausschöpfen.
"Warum sollten wir sonst diesen schwierigen Weg gehen? Wir kommen hier an und beginnen ein Leben von Grund auf. In einem Land zu leben, in dem Sie die Sprache nicht sprechen, kann man nicht sehr genießen."
Deutschland ist für türkische Migranten das beliebteste Ziel. Laut der aktuellen Metropoll-Umfrage würden sich 22 Prozent derjeniger, die im Ausland studieren wollten, für Deutschland entscheiden.
Der Migrationsforscher Ayhan Kaya von der Istanbuler Bilgi-Universität erklärt diesen Trend unter anderem damit, dass es bereits seit den 1960er Jahren in Deutschland eine große türkische Gemeinde gibt.
Migrantinnen und Migranten – ob qualifiziert oder nicht – folgen in aller Regel den bereits existierenden sozialen Netzwerken einer Diaspora.
Besonders die deutsche Hauptstadt Berlin ist bei jungen Menschen beliebt. "Die reichhaltigen Bildungschancen, das multikulturelle, weltoffene, reiche Kulturleben sind seit Jahren die wichtigsten Gründe für die Einwanderung nach Berlin", sagt Kaya.
In Deutschland seien neben Berlin Großstädte wie Düsseldorf, Köln und Frankfurt die beliebtesten Migrationsziele.
Sinem Özdemir und Daniel Derya Bellut
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