Recep Tayyip Erdogan unter Druck

Recep Tayyip Erdogan spricht zu seinen Anhängern während einer politischen Versammlung seiner Regierungspartei AKP, in Ankara, 24. März 2021; Foto: Adem Altan/AFP/Getty Images
Recep Tayyip Erdogan spricht zu seinen Anhängern während einer politischen Versammlung seiner Regierungspartei AKP, in Ankara, 24. März 2021; Foto: Adem Altan/AFP/Getty Images

Wirtschaftskrise, historisch schlechte Umfragewerte und wachsende Spannungen innerhalb der Regierung: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan steht massiv unter Druck. Ausgerechnet die USA und die EU scheinen ihm nun entgegenzukommen, denn sie brauchen die Türkei. Marion Sendker berichtet aus Istanbul

Von Marion Sendker

Passend zum Parteitag der AKP kam die Kälte zurück nach Ankara. Es schneite ununterbrochen, als sich am Vorabend hunderte Menschen aus dem ganzen Land vor der Kongresshalle sammelten, um am nächsten Morgen in der ersten Reihe zu stehen. Zwei Tage Parteitag in Ankara bedeuten für sie zwei Tage Party und kostenlose Mahlzeiten. In Zeiten der Pandemie und massiver Wirtschaftskrise ist das viel wert.

Laut Erdogan seien 13,5 Millionen Menschen Mitglied seiner AKP. "Eine so große Partei habe die Welt nicht gesehen", tönte er auf dem Parteitag. In den sozialen Netzwerken wurde die Zahl indes sofort eingeordnet: Die AKP sei eine Partei für Opportunisten. Etwa 99 Prozent seien nur Mitglied geworden, um von der traditionellen AKP-Vetternwirtschaft zu profitieren und einen Job oder etwas zu Essen zu bekommen.

Anders als früher konnten die Bilder von jubelnden Massen vor und im AKP-Parteitagssaal indes nicht mehr über den Frust der Menschen in der Türkei über ihren Staatspräsidenten hinwegtäuschen. Auch diejenigen, die vor Jahren noch für Erdogan stimmten – darunter etwa weltbekannte und nun inhaftierte Schriftsteller sowie Frauenrechtsorganisationen – protestieren mittlerweile gegen ihn.

Für Kritik bot Erdogan zuletzt reichlich Anlass. Wenige Tage vor dem Parteitag überschlugen sich die Ereignisse in der Türkei: Zuerst wurde ein Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei, die kurdisch geprägte HDP, eröffnet. Dann bestimmte Erdogan – juristisch zweifelhaft – per Dekret den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, einem Abkommen des Europarats zum Schutz von vor allem Frauen gegen Gewalt. Fast zeitgleich entließ er den Notenbankchef Naci Agbal und sorgte für einen neuen Absturz der Währung Lira.

Dann entzog Erdogan der Stadtverwaltung von Istanbul die Autorität über den Gezi-Park und übertrug sie einer Erdogan-nahen Stiftung. Vor acht Jahren waren weltweit Millionen Menschen gegen die von der Regierung geplante Zerstörung des Parks auf die Straße gegangen. Außerdem sicherte er staatliche Garantien für den extrem teuren Bau des geplanten Istanbul-Kanals, einer künstlichen Wasserstraße, die Marmarameer und Schwarzes Meer verbinden soll.

"Wir können machen, was wir wollen"

Wenige Tage zuvor hatte US-Präsident Joe Biden der EU nahegelegt, von Sanktionen gegen die Türkei abzusehen. In traditionellem Gehorsam gegenüber Washington folgte Brüssel der Empfehlung und übertraf beim EU-Türkei-Gespräch vor wenigen Tagen die Erwartungen: "Angesichts der konstruktiveren Haltung der Türkei in letzter Zeit sind wir bereit, uns auf Bereiche von gemeinsamem Interesse wie Migration und Zoll einzulassen", twitterte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach dem Treffen. Von der Bedingung, wie zuvor von der EU gefordert, die umstrittenen Anti-Terror-Gesetze zu ändern, war erstmals keine Rede mehr.

Auch das Verbotsverfahren gegen die HDP, deren Anhänger wegen angeblicher Unterstützung der als Terrororganisation gelisteten PKK in Sippenhaft genommen werden –  angesichts der letzten Verhaftungswellen ist das durchaus wörtlich zu verstehen – haben höchstens vereinzelte Stimmen in der EU verurteilt. Die HDP müsse sich von der PKK distanzieren, hieß es etwa aus Deutschland.

Innenminister Süleyman Soylu – einer der mächtigsten Männer in der Regierung – brachte das Verhältnis zum Westen kürzlich auf den Punkt: "Wir können machen, was wir wollen."

Symbolbild Pro-kurdische Partei HDP; Foto: Yasin Akgul/AFP
Verbotsverfahren gegen die pro-kurdische Partei HDP: Die Anhänger der HDP werden wegen angeblicher Unterstützung der als Terrororganisation gelisteten PKK in Sippenhaft genommen. Angesichts der letzten Verhaftungswellen ist das durchaus wörtlich zu verstehen, schreibt Marion Sendker. „Indem er die HDP dämonisiert, will er den Oppositionsblock zerbrechen“, analysiert der Autor Soner Cagaptay Erdogans Strategie. „Bei Wahlen hat Erdogan nur noch eine Chance, wenn die Oppositionsparteien in zwei Wahlbündnissen gegen die Verbindung aus AKP und MHP antreten.“

Viele Posten, wenige Entscheider

Allerdings ist gerade die USA kein Freund der türkischen Regierung. Biden hat seitdem er sein Amt als US-Präsident angetreten hat, noch nicht ein einziges Mal mit Erdogan telefoniert. Zudem sind gerade mehrere zehntausend US-Soldaten, Helikopter und Drohnen in Griechenland nahe der türkischen Grenze stationiert.

"Natürlich haben die USA uns darüber nicht in Kenntnis gesetzt", sagt der Vize-Außenminister Faruk Kaymakci. Zu verstehen scheint der AKP-Außenpolitiker die massive US-Präsenz nicht. "Ehrlich gesagt, ist das nicht meine Zuständigkeit", lacht er.

Seine Aussage ist exemplarisch für ein Phänomen der Erdogan-Regierung: Es gibt viele politische Posten – der AKP-Vorstand wurde gerade erst von 50 Mitgliedern auf 75 erhöht – aber kaum Politiker, die Entscheidungen treffen können. Erdogan ist schließlich der Flaschenhals der türkischen Realpolitik, durch den jede Entscheidung hindurch muss.

 

Historisch schlechte Umfrageergebnisse

Was nach totaler Macht aussieht, sei gleichzeitig sein größtes Verhängnis, meint der Autor von "Erdogans Empire", Soner Cagaptay: "Zwar steht er seit der Einführung des Präsidialsystems als Partei- Staats- und Armeechef auf dem Zenit seiner politischen Macht, er ist durch die vielen Ämter aber sehr geschwächt." Vorher habe es eine disparate Opposition gegeben. Jetzt gebe es nur noch die Entscheidung für oder gegen Erdogan.

Und die fällt neuerdings eindeutig gegen ihn aus. Aktuelle Umfragen bescheinigen der Partei des Politikers, der einst als Mann des Volkes Karriere machte, nur noch rund 30 Prozent Zustimmung. Zusammengerechnet mit den maximal acht Prozent für seinen rechtsnationalistischen Bündnispartner MHP ergeben das 38 Prozent. Für den Machterhalt sind aber mindestens 51 Prozent nötig.

Seitdem Erdogan an die Macht gekommen ist, waren die Umfragewerte noch nie so schlecht für ihn. In die Enge getrieben, schlägt er nun um sich. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention sowie die Veränderungen in Sachen Gezi-Park und Istanbul-KanaI gelten klar als Geschenk an Erdogans Stammwählerschaft: konservative Muslime und die Bauindustrie.

"Indem er die HDP dämonisiert, will er den Oppositionsblock zerbrechen", analysiert Cagaptay. "Bei Wahlen hat Erdogan nur noch eine Chance, wenn die Oppositionsparteien in zwei Wahlbündnissen gegen die Verbindung aus AKP und MHP antreten."

"Love-Erdogan"-Plakat in Istanbul; Foto: Marion Sendker
Sie lieben ihn nicht mehr: Die Zustimmung zu Erdogan bröckelt massiv. Aktuelle Umfragen bescheinigen der AKP-Partei des Politikers, der einst als Mann des Volkes Karriere machte, nur noch rund 30 Prozent Zustimmung. Zusammen mit den maximal acht Prozent für seinen rechtsnationalistischen Bündnispartner MHP ergeben das 38 Prozent. Für den Machterhalt sind aber mindestens 51 Prozent nötig.

Misslungene Militäroperation

Auch Gerüchte um einen Umbau des Kabinetts sorgen für Ablenkung und Hoffnung auf frischen Wind in Ankara. Zum Beispiel ist die Rede von einer Rückkehr von Erdogans  Schwiegersohn Berat Albayrak in ein Regierungsamt.

Seine Nähe zum neuen Notenbankchef Sahap Kavcioglu zeigt, dass Albayrak auch ohne offiziellen Posten als eine Art Schattenminister immer noch aktiv sein dürfte.

Nicht nur die Regierung scheint gerade besonders unkoordiniert und fragmentiert, sondern auch das Verhältnis der Regierung zum Staat, vor allem zum Militär. Bestes Beispiel dafür ist der missglückte Versuch zur Rettung von 13 hochrangigen türkischen Geiseln aus PKK-Gefangenschaft: Die Türkei schickte Anfang März Panzer und Kampflugzeuge in den Nord-Irak. Erdogan hatte das kurz zuvor angekündigt.

Militärische Operationen werden normalerweise aber nicht angekündigt, sodass sich der Feind darauf vorbereiten kann. Und Geiseln werden normalerweise auch nicht unter den Augen der Öffentlichkeit mithilfe von Panzern befreit, sondern durch geheime Aktionen der Spezialkräfte.

Vor Ort sollen auch Kräfte der Gendarmerie gewesen sein. Sie unterstehen dem Befehl von Innenminister Soylu und sind normalerweise nicht im Ausland aktiv. All das deutet auf eine zumindest unglücklich geplante Operation hin.



Die Nachricht vom Fund der 13 Leichen sorgte noch dazu für schlechte Presse im eigenen Land.

Der Westen braucht die Türkei

Solch missglückte Kooperation zwischen staatlichen Stellen und der Regierung kann aktuell aber noch nicht als Anzeichen für einen Regimewechsel durch das Militär gelesen werden.



Denn das mischt sich nicht ohne Unterstützung der USA in politische Angelegenheiten ein. Und Washington setzt gerade auf einen unterstützenden Kurs mit Ankara.   

Das offenbart ein Spiel des Westens: Man lässt Erdogan innenpolitisch gewähren, weil man sie braucht, um andere Ziele zu verfolgen. Washington braucht die Türkei, um wieder mehr Einfluss in Syrien und Libyen zu bekommen. Außerdem dürften die USA und auch Europa weitere Annäherungen Ankaras an Peking und Moskau verhindern wollen.

Der Grund für den Kurswechsel im Westen liegt also in eigenen Ambitionen in der Region. Als Mittel dazu bietet sich die Regierung Erdogan vor allem dann an, solange sie innenpolitische Schwierigkeiten sowie schlechte Umfrageergebnisse hat.

Was Erdogan vielleicht noch retten kann, wäre eine Rückkehr zum parlamentarischen System oder eine Änderung der Verfassung dahingehend, dass eine einfache Mehrheit für Regierungsverantwortung ausreicht. Auf dem Parteitrag versprach Erdogan, dass eine Verfassungsänderung bis 2022 kommen werde. Inhaltlich sagte er kaum, was genau reformiert werden sollte.

Stattdessen tat er weiter so, als sei er nicht nur an der Macht, sondern verfüge noch über ungeteilte Zustimmung. Wie bei einem Möchtegern-Diktator ließ Erdogan sich bei nur drei ungültigen Wahlzetteln von fast 1.500 Stimmen zum Vorsitzenden wählen. Und er schwor seine Anhänger auf den Einstieg der Türkei ins 21. Jahrhundert ein, auch wenn dieser schon  mehr als zwei Jahrzehnten dauert. "Ein Staat, eine Flagge, ein Land, eine Regierung" schrie er und hob die Hand zum Gruß der Muslimbrüder. Die Partei folgte ihm, wenn auch zögerlich.

Marion Sendker

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