Die Freiheit war ihr Todesurteil

Der Mord an einer jungen Türkin und der Beifall einiger Schüler hat Berlin erschüttert. Welchen Stellenwert hat die Familienehre in manchen Einwanderergruppen?

Von Sonia Phalnikar

Ernst blickt Hatin Sürücü von einem Poster hinter einer Bushaltestelle, an einem kalten Nachmittag in dieser Woche, in einer besonders trostlosen Gegend von Berlin-Tempelhof. Um sie herum: Blumen, Karten und Kerzen.

Die Menschen, die am Dienstag zu der Mahnwache für Hatin Sürücü erschienen, kannten das Bild bereits aus Zeitungen und aus dem Fernsehen. Es zeigt sie mit Kopftuch und mit einem Kind in ihren Armen.

Zu der Mahnwache hatte nicht die muslimische Gemeinde Berlins aufgerufen, sondern die Lesben- und Schwulenorganisation der Stadt. Auf den Bannern vor dem Bild der Frau steht "Hoffentlich wird es dir im nächsten Leben besser ergehen" und "Lebe dein Leben, so wie du es willst."

"Es ist ein Skandal", sagt Ali K., 33. "Alle Muslime in Berlin sollten auf die Straße gehen, um zu protestieren." Die 22 Jahre alte Yasemin sagt: "Es ist furchtbar. Alles, was Hatin gemacht hat, war, so zu leben, wie sie es für richtig hielt."

Aber das war eine Entscheidung, für die sie mit ihrem Leben bezahlt hat. Am 7. Februar wurde Hatin Sürücü auf offener Straße erschossen, an der Bushaltestelle, wo jetzt ihr Bild hängt, wo sie starb, noch bevor die Ärzte eintrafen. Nur wenig später wurden drei ihrer Brüder festgenommen, die Hatin schon seit langem bedroht hatten.

Die Ermittler gehen von einem so genannten "Ehren-Mord" aus, denn Sürücüs ultra-konservative türkisch-kurdische Familie war strikt gegen ihren modernen und "un-islamischen" Lebenswandel.

Sürücü, aufgewachsen in Berlin, wurde mit 16 von ihren Eltern verheiratet, an einen Cousin in Istanbul. Nur wenige Jahre später kehrte sie mit ihrem jungen Sohn nach Deutschland zurück. Sie zog in ein Mutter-Kind-Heim, machte ihren Schulabschluss und begann eine Lehre als Elektroinstallateurin. Sie legte ihr Kopftuch ab, Freunde sagen, sie ging gerne aus und war lebensfroh.

"Sie lebte wie eine Deutsche"

Obwohl es nicht der erste "Ehrenmord" war, hat diese Tat Berlin erschüttert. Die großen Immigranten-Gruppen, die hier leben, haben sich nach und nach in eigenen Ghettos angesammelt, ganze Bezirke werden zum Großteil von Türken und Arabern bewohnt. Der Mord an Hatin Sürücü hat eine seit Jahren andauernde politische Diskussion um Integration von Ausländern in Deutschland wieder entfacht. Aber es war die Reaktion von ein paar Berliner Schülern, die die Öffentlichkeit entsetzte.

Nur Tage nachdem Hatin Sürücü erschossen wurde, haben einige junge Türken von einer Schule unweit des Tatorts die Tat herunter gespielt. Während einer Klassendiskussion über den Mord sagte einer von ihnen: "Sie (Hatin Sürücü) war doch selbst schuld", während ein weiterer sagte: "Sie hat das doch verdient – die Hure lebte wie eine Deutsche."

Der Schuldirektor schickte umgehend einen Brief an Eltern und Schüler. Er verurteilte die Aussagen der Schüler und warnte, die Schule werde keine Anstachelungen dieser Art tolerieren.

"Ihr Lebensstil passte nicht in die Rolle "

Die Äußerungen der jungen türkischen Schüler haben Entsetzen ausgelöst und warfen die Frage auf, ob es die Ausfälle einzelner waren, oder ob diese Ansichten das Denken in weiten Teilen des muslimischen Berlin dominieren.

Einige sehen genau dafür deutliche Hinweise. "Es ist nicht nur eine einzelne Schule mit einem hohen Anteil ausländischer Schüler, an der die Lehrer die Augen verschließen und einzelne Schüler Mord als gerechte Strafe ansehen", sagt Heinz Wagner, Vorsitzender der Schul- und Ausbildungspolitik der VBE-Handelsvereinigung für Lehrer, und selbst Schuldirektor. "Alleine die Tatsache, dass sie (die Schüler) mit ihren Aussagen provozieren wollten, zeigt doch, dass sie dieses Gedankengut irgendwo her haben."

Berlin, Kottbusser Tor, eine Gegend, die von türkischen Immigranten dominiert wird. Der 17-jährige Erkan, selbst mit beiden Kulturen groß geworden, weiß nicht, was er von der Tat halten soll. "Ich sage nicht, dass man Menschen umbringen soll, aber Hatins Lebensstil passte halt einfach nicht in die Rolle, wie Muslime traditionell leben."

Kein Bedauern, nur Stolz

Experten betonen, das Problem sei in keiner Weise nur ein "islamisches Phänomen". Die Äußerungen einiger weniger sollten nicht zu einer Verurteilung einer ganzen Gemeinschaft führen. Aber die Statistik zeigt, dass "Ehrenmorde" in der muslimischen Bevölkerung weitaus häufiger vorkommen.

In Berlins Jugendgefängnis mit 529 Häftlingen sitzen derzeit sechs Insassen wegen solcher "Ehrenmorde" ein, wegen Totschlags verurteilt zu Haftstrafen von sechs Jahren und mehr. Alle sind Muslime im Alter zwischen 18 und 22. Ein junger Mann aus Afghanistan war erst 16, als er beim Mord an seiner Tante mithalf. Nachdem ihr Mann gestorben war, hatte sie sich geweigert, ihren Schwager zu heiraten.

Marius Fiedler, der Gefängnisdirektor, sagt, die meisten Morde seien von den Familienmitgliedern genau geplant und von allen unterstützt worden, auch von den Frauen. "Für gewöhnlich gibt der Patriarch dem jüngsten Sohn den Auftrag, das Verbrechen auszuführen. Denn sie wissen: Deutsche Gerichte verhängen gegen jugendliche Straftäter so gut wie nie die Höchststrafe."

Fiedler sagt, die Täter, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden, dazu zu bringen, ihre Ansichten zu ändern, sei sehr schwierig:

"Viele kommen aus ländlichen Gebieten in der Türkei oder dem Libanon und kennen einfach keine individualistischen Lebensweisen. Sie bedauern nicht einmal, was sie getan haben, selbst wenn sie eine geliebte Schwester töten. Stattdessen sind sie stolz darauf und fühlen sich wie Märtyrer, weil sie dazu aufgefordert wurden, die Tat auszuführen."

Sind Ethikstunden die Antwort?

Dass Mord und archaische Ehrenideale offenbar bei manchen Jugendlichen in Berlin Anerkennung finden, hat die Berliner Politik und manche muslimische Organisationen alarmiert.

"Es mag eine Minderheit sein, aber selbst eine einzige Person, die dem Mord an Hatin Sürücü Beifall spendet, ist inakzeptabel, " sagte Kenan Kolat, der Vorsitzende des Türkischen Vereins in Berlin und Brandenburg.

Seine Organisation hat eine Diskussion mit Lehrern, Politikern, Eltern und Imamen veranstaltet und plant eine Zusammenarbeit mit türkischen Zeitungen und Fernsehkanälen in Berlin. Auf diese Weise sollen demokratische Ideen in der türkischen Gemeinschaft verbreitet werden.

"Wir müssen anfangen, über die Rolle der Frau zu sprechen, über den Stellenwert der Familienehre, über Würde, gegenseitigen Respekt und demokratische Werte ", so Kolat.

Zusätzlich zu den Plänen Berliner Politiker für obligatorischen Ethikunterricht an allen Schulen der Stadt soll es zukünftig auch Islamunterricht geben. "Das ganz normale Klassenzimmer muss der Ort werden, an dem Jugendliche über den Islam informiert werden, und nicht die 'Islam-Institute', die die theologische Oberhand in der Stadt haben."

Aber einige stehen solchen "Strohfeuer-Ideen" skeptisch gegenüber. "Jedes Mal, wenn diese kontroverse Diskussion aufkommt, fordern Politiker Ethikunterricht als Allheilmittel", sagt Schuldirektor Wagner. "Aber die Schule ist ja nicht der einzige Ort, an dem demokratische Werte vermittelt werden müssen. Das fängt in der Familie an."

Sonia Phalnikar

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