Die Schuld der Zaungäste
Um es mit den Worten der libanesischen Autorin Lina Mounzer zu sagen: "[Wenn] mich jemand fragt, 'Warum gibt es die syrische Revolution und gibt es sie wirklich?' verweise ich stets auf dieses Buch."
Doch das erste und bislang einzige Werk von Khalifa kennt auch noch eine weitere Erzählebene. Inmitten des Romans erblüht eine Liebesgeschichte. Also ausgerechnet dort, wo die Welt völlig aus den Angeln gerät. Die Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten Musa und seinem Angebeteten Dr. Nasim ist praktisch völlig asexuell, aber deswegen nicht weniger packend. Zwei männliche Seelenverwandte mittleren Alters finden einander an diesem Schmerzensort und ihr Schicksal entwickelt sich wie jenes von Romeo und Julia.
Khalifas Buch ist Fiktion, doch es weist Parallelen zu seinem eigenen Leben auf. Ebenso wie sein Protagonist Musa besuchte auch Khalifa eine Universität in Frankreich, wo er Kunst und Regie studierte. Bei seiner Rückkehr aus Paris im Jahr 1982 nimmt man ihn am Flughafen von Damaskus fest. Von 1982 bis 1994 saß Khalifa in verschiedenen Haftanstalten und Internierungslagern fest, unter anderem lange Zeit im berüchtigten Militärgefängnis Tadmur in Palmyra.
Musa ist Erzähler dieses Romans. Er ist Atheist aus einer christlichen Familie. Als er am Flughafen von Damaskus verhaftet und der Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern angeklagt wird, nimmt er das kaum ernst.
In Gedanken und Gefühlen hängt er noch seinem Leben in Paris nach. Politisch aktiv war er nie. Die Anschuldigungen müssen ein schlechter Scherz sein. Seinen Wärtern erzählt er, er sei Atheist, worauf sie ihn umso heftiger foltern.
Ein ausgefeiltes System der Geiselhaft
Erst im Gefängnis von Tadmur – auf der einen Seite umgeben von Wärtern, auf der anderen von Islamisten – kriecht ihm die nackte Wahrheit unter die Haut. Dies ist kein Fehler, den man beheben könnte. Nein. Fehler und Chaos sind der Motor des Systems. Musa ist nicht der einzige Unschuldige: Es gibt einen ganzen Schlafsaal voller Kinder, die als unschuldig gelten, aber nicht freigelassen werden.
Andere Gefangene wurden als Geiseln genommen, bleiben aber weiter in Tadmur, sogar nachdem ihre Söhne oder Brüder festgesetzt wurden. Das gesamte Haftwesen scheint ein ausgefeiltes System der Geiselhaft zu sein. Die Gefangenen hält man am Leben, um andere Syrer zu Wohlverhalten gegenüber dem Regime zu zwingen.
In den ersten Jahren seiner Gefangenschaft ist Musa ständig vom Tode bedroht. Einige der islamistischen Gefangenen halten ihn für einen Spion. Der extremste unter ihnen will ihn töten, da er ein Ungläubiger sei.
Die kulturell und spirituell Gebildeteren unter ihnen schützen ihn. Seine Lage ist jedoch auf Jahre hinaus fragil. Er schrumpft förmlich zu einer Kapsel, die dem Roman seinen Namen verleiht. Er spricht kaum noch. Während des "Hungerjahrs", als die Häftlinge von Tadmur kaum genug zum Leben haben, geht Musas Schrumpfungsprozess weiter.
Da entdeckt er ein Loch, durch das er aus dem gemeinsamen Schlafsaal herausspähen kann. Dort sitzt er, eine Decke über den Kopf gezogen – stumm. Er erinnert sich an die Schuld, die er empfand, als er zum ersten Mal masturbierte. Diese Schuld hielt ihn umklammert, "bis ich das Hungerjahr erlebte und diese Schuld und Unreinheit allmählich von mir wich und ich zu der Einfachheit und Unschuld meiner Kindheit zurückfand."
Doch im Gefängnis von Tadmur fehlen nicht nur Sinnhaftigkeit, Wärme, Kameradschaft und Nahrung. Das Gefängnis ist auch eine Informationswüste. Wenn bei einem Sandsturm ein einziges Zeitungsblatt gegen die Deckenbalken des Schlafsaals geweht wird, bilden die Männer eine Pyramide und nehmen es herunter. Doch meist besteht eine Seite des Blatts aus Werbung, die andere aus Sportmeldungen. Und doch geht dieses eine Blatt sorgsam durch alle Hände.
Nach zehn langen Jahren betritt der gewalttätige Dschihadist Abu al-Qa'qa' die Bühne und für Musa ändert sich von nun an alles. Abu al-Qa'qa' befiehlt den Mord an Musa. Das Oberhaupt des Schlafsaals, Abu Hussein, wendet sich strikt dagegen. Doch Abu al-Qa'qa' lässt nicht locker. Daraufhin erhebt sich Musa und erzählt seine Geschichte. So findet er schließlich Anerkennung unter den Mithäftlingen. Auch lernt er Dr. Nasim kennen. Ebenfalls ein Künstler, der sich mit ihm auf Französisch austauscht und den er so liebt wie niemanden zuvor.
Fadenscheinige Beschuldigungen
Eines Tages wird Musa ohne Vorwarnung aus Tadmur verlegt. Man bringt ihn nach Damaskus, wo er erneut von Sicherheitskräften gefoltert wird. Schließlich erzählt man ihm den Grund seiner Inhaftierung: Er wird beschuldigt, auf einer Pariser Party einen Scherz über den syrischen Präsidenten gemacht zu haben.
In den zurückliegenden Jahren konnte Musas Onkel seinen Einfluss ausbauen. Dieser erreicht schließlich über seine Verbindungen die Freilassung von Musa. Das letzte Kapitel des Romans erzählt von Musas erstem Jahr nach der Entlassung aus dem Gefängnis. Ein Jahr ohne Erlösung. Sogar der erneute Kontakt zu Dr. Nasim wird zur tragischen Erfahrung.
Als Musa nach den Jahren in Tadmur die Außenwelt kritisch betrachtet, erfasst ihn Wut. Er kann nicht glauben, dass seine Mitmenschen nicht wissen, was in den Gefängnissen des Landes vor sich geht. Er kann nicht glauben, dass sie einfach weiterleben, während Dr. Nasim leidet. Sollten diese Menschen nichts davon wissen, "wäre das ein Unglück". Und falls sie davon wissen, "aber nichts tun, um die Verhältnisse zu ändern, wäre es ein noch größeres Unglück."
Und das – so ist dem Roman zu entnehmen – trifft wohl auf uns alle zu.
Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2019
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Mustafa Khalifa: "Das Schneckenhaus. Tagebuch eines Voyeurs", aus dem Arabischen von Larissa Bender, Weidle Verlag, Bonn 2019, 312 Seiten, ISBN 9783938803929