Ein fehlendes Stück am Himmel von Damaskus
Er beugt sich über den Boden und sucht seinen Personalausweis. Aus dem Sich-Beugen wird ein Kriechen und das Kriechen mündet in ein verzweifeltes Liegen-Bleiben, auf einem öffentlichen Platz in Damaskus. Der Ausweis, der vor wenigen Augenblicken noch in der Hosentasche war, ist verloren. Der Leser braucht nicht viel Phantasie, um in dem Verlust des Ausweisdokuments eine Metapher für den Sturz in die Identitätskrise zu erkennen.
Die Szene ist Teil eines Albtraums, den der Schriftsteller und Dichter Ra'id Wahsh in der Ich-Form schildert. Der Albtraum ist Teil eines Monologs, den der 35-Jährige über sein vom Krieg bestimmtes Leben in "Khan ash-Shih" führt, einer wuchernden Siedlung am Südrand von Damaskus, die aus einem palästinensischen Flüchtlingslager entstanden ist.
Dem Identitätsverlust auf dem Betonboden verleiht der Kriegszeuge und Erzähler Wahsh ein höhersphäriges Spiegelbild, das buchstäblich an den Grundfesten der Existenz rüttelt: im Himmelsblau über Damaskus vermisst er ein beachtliches Stück, "als hätte ein Monster es mit seinen Riesenzähnen herausgerissen."
"Ein fehlendes Stück am Himmel über Damaskus": unter diese Überschrift hat Wahsh seine Selbstmitteilung aus dem syrischen Krieg gestellt. Reale Beobachtungen sind der Kern des Werks. Immer wieder spinnt der Autor tatsächliches Geschehen in phantastischen Allegorien weiter. Aus dieser ungewöhnlichen Vermischung von Realität und Fiktion scheint man eine ungläubige Frage herauszuhören: "Passiert das hier gerade wirklich?" Vom arabischen Original gibt es bislang keine Übersetzung. Der schmale Band sollte allerdings unsere Beachtung finden.
Zurück zum Tier
Wenn der Ich-Erzähler auf allen Vieren über den Damaszener Boden kriecht, findet er zwar seinen Personalausweis nicht. Er führt den Leser aber zu einer erschreckenden Frage: sind wir noch Menschen? In Syrien steht nicht nur zur Debatte, wie Bürger noch einem Staat zugehörig sein können, der seine eigenen Städte bombardiert und damit an seinem eigenen Verfall arbeitet. Wahsh zeichnet das Bild eines evolutionären Rückwärtslaufs. Zwischen Trümmern und Straßensperren sinken die Menschen von ihrer Evolutionsstufe herab, beugen sich und entwickeln sich zurück zum Tier. Die Milizionäre des Regimes "bellen" an Checkpoints und bei Hausdurchsuchungen. Der Erzähler selbst "heult wie ein Wolf" in der Morgendämmerung gegen das Artilleriefeuer an. Ein Stück Käse der Billigmarke "La Vache qui rit" gibt ihm Hoffnung. Er verschlingt es und phantasiert, "sich in eine Herde lachender Kühe zu verwandeln".
Wenn die menschliche Kommunikation sich auf die Verbreitung von Hass beschränke, dann zerlege sich die menschliche Sprache. Am Ende bleiben Tierlaute und Tiergesten.
Wahsh stellt sich klar gegen das syrische Regime, das er als "neofaschistisch" bezeichnet. Über dem Eingang zu einer Kaserne, in der frische Rekruten ausgebildet werden, habe das Militär die Aufschrift "Männerfabrik" angebracht. Aber trotz Fassbomben und Folterkellern: der Autor ergreift nicht Partei für die bewaffnete Rebellion. Das sind schließlich Leute, die die letzte Kneipe im Viertel, wo noch Anisschnaps (Araq) ausgeschenkt wurde, dicht gemacht haben. Wenn ein Kämpfer ihm berichtet, an einem bestimmten Frontabschnitt stehe "ein Sieg" bevor, weiß Wahsh: Gewinner kann es in diesem Krieg keine mehr geben.
Wahsh, der auch vier Gedichtbände veröffentlicht hat, betätigt sich in diesem Prosamonolog als Chronist des zivilisatorischen Rückschritts. Als Sohn einer palästinensischen Beduinenfamilie, die 1948 von den Ufern des Sees Genezareth in das Flüchtlingslager am Rand von Damaskus floh, schöpft er aus einem Fundus überlieferter Erinnerung.
Die Armut, in die er gebombt wird, erinnert ihn an die Lebensbedingungen, die seine Großeltern in Khan ash-Shih vorfanden. Wie diese vor beinah 70 Jahren zündet er Abends eine Öllampe gegen die Finsternis an. Der elektrische Strom erweist sich für ihn als eine vorübergehende Errungenschaft. "Finsternis" sei in seiner Geschichte "keine Metapher", sondern sie sei "das Eigentliche". Seine beiden jüngeren Schwestern verließen heute das Lager, um auf Nahrungssuche zu gehen,"barfuß", genau wie seine Großmutter vor Jahrzehnten in das Lager gekommen sei.
Wahsh liefert einen Eindruck davon, wie sich der Kriegsalltag von innen anfühlt. Dabei zeichnet er kein statisches Bild, sondern berichtet, wie die Verhältnisse sich über die Jahre verändern. Zu Beginn etwa seien die Menschen noch panisch besessen gewesen von der Vorstellung, die Geheimdienste des Regimes würden jeden Schritt beobachten und jedes Telefonat abhören. Inzwischen habe sich Gleichgültigkeit breit gemacht. Ob man überwacht wird oder nicht, sei in der fortgeschrittenen Kriegswirklichkeit nicht mehr von Relevanz.
"Krieg gegen die Natur"
Besonders detailreich und eindringlich beschreibt Wahsh, wie die Menschen den Krieg untereinander zu einem "Krieg gegen die Natur" ausweiten. Im Winter starteten sie "einen kollektiven Angriff mit Äxten und Sägen" auf Oliven-, Aprikosenbäume und Zypressen. Mit dem Holz der Bäume würden sie heizen. Ganze Haine seien so in wenigen Jahren verschwunden. Hier schwingt eine Ahnung davon mit, dass der Syrienkrieg mehr ist als das Ausloten der Frage, wer in der hasserfüllten Auseinandersetzung der Stärkere ist. Die Gesellschaft vernichtet dabei auch ihre natürlichen Lebensgrundlagen.
Vor dem Krieg sei nicht alles gut gewesen in Syrien, im Gegenteil. Aber selbst die morbide Normalität der jüngeren Vergangenheit steigt nun plötzlich auf in den Rang eines Sehnsuchtsorts. Der religionskritische Erzähler, der den Ruf zum Frühgebet immer als unangenehme "Störung der Nachtruhe" empfunden hatte, bedauert nun, dass der Gebetsrufer schweigt. Das Ausbleiben des "Adhan" bedeutet, dass die Front zu nah gerückt ist.
In einer albtraumhaften Vision erhebt sich die Leiche eines Mannes aus den Trümmern eines Hauses, das aus der Luft zerbombt worden ist. Der wiederbelebte Leichnam, ein Freund des Autors, sieht das Blut an sich herablaufen und schüttelt den Staub aus seinen zerzausten Haaren. "Ihr habt es verdient", ruft die Leiche zu den anderen unter der Ruine begrabenen Leichen. An Stellen wie dieser gewinnt der Monolog eine doppeldeutige Tiefsinnigkeit. "Ihr habt es verdient" reflektiert einerseits die zynische Haltung des Regimes gegenüber den Opfern der Luftangriffe. Andererseits wirft der Ausruf die Frage nach der kollektiven Verantwortung für die Katastrophe in Syrien auf. Was hätte jeder einzelne tun können, um das zu verhindern?
Die Stunde Null
"Ein fehlendes Stück am Himmel von Damaskus" ist syrische Trümmerliteratur. Das deutsche Publikum dürfte wissen, was damit gemeint ist. Es ist eine Literatur, die den Zusammenbruch atmet, den Untergang des Menschen in seiner bisherigen Daseins- und Gesellschaftsform, "die Stunde Null".
"Sind wir noch hier? Ist dies noch die alte Erde? Ist uns ein Fell gewachsen, du? Wächst uns kein Schwanz, kein Raubtiergebiß, keine Kralle? Gehen wir noch auf zwei Beinen?", fragt der Kriegsheimkehrer Beckmann in Wolfgang Borcherts Drama "Draußen vor der Tür" aus dem Jahr 1946.
Ein deutscher Leser wird die Verwandtschaft des arabischen Textes aus Syrien mit der deutschen Trümmerliteratur, etwa den Kurzgeschichten von Böll und Borchert, kaum übersehen können. Ähnlich wie die Autoren der deutschen Trümmerliteratur ist sich Ra'id Wahsh bewusst, dass nach Jahren des Propagandatrommelfeuers die Sprache neu erfunden werden muss, damit sie wieder wahre Einsichten und Gefühle transportieren kann.
"Ich habe Auskünfte gesammelt von Brüdern, Freunden und Bewohnern des Lagers. Dabei ist Material zusammengekommen, aus dem man einen Roman schreiben könnte", sagt der Erzähler gegen Ende seiner Selbstmitteilung. Aber wer hat die Kraft, einen Roman zu schreiben, wenn die Wirklichkeit die Phantasie beherrscht?
Das Ende des Syrienkrieges, wenn er denn zu Ende gehen sollte, wird Wahsh wohl in Deutschland erleben. Hierhin ist er mit seiner Familie geflohen. Schlepper, teils Soldaten des Regimes, teils Rebellen, haben seine Flucht aus Syrien organisiert. Das ist die Schlussmetapher: Wenn es darum geht, die Stimme der Vernunft gegen Bezahlung außer Landes zu schaffen, arbeiten das Regime und seine Feinde zusammen.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2017
Der Rezensent arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin "Panorama".