Stiller Rückzug statt Islamisierung
Sie machen sich Sorgen um das "christliche Abendland"? Dann hätte ich einen einfachen Vorschlag: Lassen Sie uns doch zukünftig alle Deutschen statistisch als "Christen" zählen, die irgendwie Weihnachten begehen. Voila – die gesamte Bundesrepublik einschließlich der neuen Bundesländer wäre auf einen Schlag wieder dominant christlich!
Wenn Sie an dieser Stelle schmunzeln, dann haben Sie den Fehler gefunden. Gestützt auf die klassische Kirchensoziologie werden Christinnen und Christen gemeinhin nur dann als solche gezählt, wenn sie getauft wurden und einer Kirche angehören, für die sie normalerweise auch Beiträge bzw. Kirchensteuern bezahlen.
Entsprechend werden in den nationalen Statistiken, aber auch in verdienstvollen, internationalen Erhebungen zum Beispiel des Pew-Institutes auch Jahr für Jahr jene Menschen zu Konfessionslosen, die gar nicht erst getauft wurden oder die aus ihrer Kirche ausgetreten sind. Konfessionslose PEGIDA-Demonstranten werden nicht schon dadurch statistisch zu "Christen", dass sie zur "Verteidigung des Abendlandes" Weihnachtslieder vom Blatt lesen.
Der Islam kennt keinen formalen Ein- und Austritt
So weit, so richtig. Doch leider wird diese Trennschärfe, die Säkularisierungsprozesse sichtbar macht, bislang bei Angehörigen anderer Religionen nicht angewandt. Als Jüdin, Hindu oder Muslimin wird man geboren und es ist keinerlei spezielles Ritual und auch keine Verbandsmitgliedschaft notwendig, um weiterhin dazu zu gehören. Mehr noch: Vom Übertritt zu einer anderen Religion abgesehen gibt es gar keine Stelle, bei der man einen formalen "Austritt" erklären könnte! Einmal Muslim, immer Muslim, mindestens "Kulturmuslim" - auch wenn die Religion im Leben kaum mehr eine Rolle spielt oder die eigene Einstellung im privaten Rahmen längst eher mit Agnostizismus oder Atheismus beschrieben wird.
Eine Folge dieses "Details" ist, dass Statistiken für Europa und die Welt eine vermeintliche "Islamisierung" mit einem "Schrumpfen der Kirchen" kontrastieren und entsprechend "prognostizieren", schon ab 2050 oder 2070 werde es global gesehen "mehr Muslime als Christen" geben!
Tatsächlich sind diese Vergleiche statistischer Quatsch – und würden erst dann Sinn machen, wenn entweder alle kulturell christlich Geprägten weiterhin als "Christen" oder nur verbandlich organisierte Muslime als "Muslime" gezählt würden. Empirische Befragungen – wie zum Beispiel zuletzt für die Deutsche Islamkonferenz 2009 – zeigen, dass nur noch eine Minderheit der Muslime in Deutschland "täglich betet"; vom fünfmal täglichen Pflichtgebet ganz zu schweigen.
Erhebliche Prozentanteile gaben dagegen an, "nie" oder "selten" zu beten. Und dabei sind selbst solche Studien beispielsweise auch des Bertelsmann Religionsmonitors wiederum auf Freiwilligkeit angewiesen – wer sich selbst gar nicht (mehr) als Muslim bezeichnet oder keiner bestimmten Konfession (Sunniten-, Schiiten- oder Alevitentum) zurechnen will, wird meist gar nicht mehr erfasst! Damit aber erreichen solche Befragungen wiederum nur immerhin noch bekennende Ausschnitte "der Muslime", die dann wiederum auf die Gesamtheit projiziert werden.
Bislang geringer Organisationsgrad unter "Muslimen"
Auch beim letzten, bundesdeutschen Zensus war die Frage nach der Religionszugehörigkeit nur für Mitglieder von Körperschaften des öffentlichen Rechts verpflichtend, also für Muslime und Angehörige anderer Religionen freiwillig – und prompt fiel die Zahl der "Muslime" kaum halb so hoch aus wie erwartet! Über die Gründe der Nicht-Antworten kann mangels einschlägiger Forschungen nur spekuliert werden; doch selbst auf Basis der vorliegenden Daten ist die Vermutung gerechtfertigt, dass vielen vermeintlichen "Muslimen" ihre religiöse "Zugehörigkeit" einfach wenig oder nichts mehr bedeutet.
Konkret äußert sich dieses Missverständnis auch in beliebten Vorwürfen an "die deutsche Politik", die mit den "islamisch-konservativen Verbänden" anbandeln würden, wobei letztere doch "nur einen kleinen Teil der Muslime in Deutschland" repräsentierten. Dabei wären nach meiner Erfahrung ausnahmslos alle demokratischen Politikerinnen und Politiker unseres Landes sogar sehr erfreut, wenn es zahlenmäßig bedeutende, liberal-islamische Verbände gäbe!
Tatsächlich ist die Bereitschaft säkular und liberal gesinnter Muslime aber bislang sehr gering, sich zu eigenen Verbänden zusammenzuschließen und für diese Engagement, Spenden und Beiträge zu leisten. In den islamisch geprägten Ländern hat dies auch wenig Tradition, da private Stifter, Sufi-Orden und vor allem der Staat Moscheen, Lehrpersonal usw. bereitstellen.
Ein freiheitlicher, säkularer Staat wie die Bundesrepublik definiert aber selbst keine Religionen, sondern kann und darf nur mit jenen Religionsgemeinschaften zusammenarbeiten, die sich auch mitgliedschaftlich selbst organisieren. Der geringe Organisationsgrad von "Muslimen" ist also weder die Schuld von "der Politik" noch von den bestehenden Verbänden – sondern deutet schlichtweg ebenfalls darauf hin, dass sehr vielen (Ex-)Muslimen auch in Deutschland ihre Religion längst viel weniger bedeutet, als es verzerrte Statistiken und populäre Wahrnehmungen nahelegen.
Sie betrachten den Glauben als ihre ganz private Angelegenheit oder haben sich innerlich weitgehend oder völlig von den religiösen Traditionen gelöst, ohne irgendwo einen "Austritt" zu erklären. Ich nenne dieses weithin beobachtbare, aber leider noch kaum erforschte und beschriebene Phänomen den "stillen Rückzug", der in Einzelfällen etwa über den Twitter-Hashtag #exmuslimbecause oder über Blogs auch zunehmend öffentlich gemacht wird.
Nicht zufällig werden säkulare Blogger nicht nur in Saudi-Arabien und dem Iran, sondern auch zum Beispiel in Bangladesch und Pakistan bedroht und verfolgt – sie machen den längst um sich greifenden, globalen Prozess der Säkularisierung auch unter "Muslimen" langsam online sichtbar. Auch die deutsch-humanistische Kuriosität eines "Zentralrates der Ex-Muslime" weist im Übrigen darauf hin, dass manche ehemalige Muslime längst gerne analog zu Ex-Christen ihren Austritt erklären würden, wenn dies irgendwo ginge.
Es stimmt nicht, dass "die Muslime mehr Kinder" hätten
Dafür sprechen im Übrigen auch die eindeutigen Befunde der Religionsdemografie: Es stimmt einfach nicht, dass "die Muslime" mehr Kinder bekämen als Christen oder Juden. Stattdessen besteht quer durch alle monotheistischen Weltreligionen ein gleichlaufender, starker Zusammenhang zwischen Religiosität und Kinderzahl: Fromme Juden und fromme Christen haben – besonders erkennbar etwa in Israel und den USA – nicht weniger Kinder als fromme Muslime.
Tatsächlich bilden die christlichen Old Order Amish und Hutterer sowie die jüdisch-ultraorthodoxen Haredim sogar die kinderreichsten Religionsgemeinschaften auf unserem Planeten, hinzu treten neuere Gründungen wie die Mormonen und Quiverfulls. In den islamisch geprägten Gesellschaften haben sich dagegen vergleichbar selbstorganisierte Traditionen mangels Religionsfreiheit bislang nicht bilden und halten können.
Auch auf dem Balkan, in der Türkei, im Iran und in Malaysia sind stattdessen die Geburtenraten längst unter die so genannte Bestandserhaltungsgrenze von 2,1 Kindern pro Frau gefallen, befinden sich auch die "muslimischen" Familiengrößen auf einem ebenso stillen wie schnellen Rückzug. Die demografische "Traditionalismusfalle" aus erstarrten Familienidealen und -politiken einerseits und einem unausweichlich folgenden Geburtenrückgang andererseits ist nicht nur ein japanisches, griechisches, deutsches oder polnisches Phänomen, sondern entfaltet sich längst ebenso in islamisch geprägten Gesellschaften. Entgegen den einschlägigen Verschwörungsmythen gibt es keinen statistisch messbaren "islamischen Geburtendschihad".
Der sachlich falsche Mythos von der "Islamisierung"
All die genannten Statistik- und Wahrnehmungsverzerrungen müssten Wissenschaft, Publizistik und Gesellschaft nicht weiter kümmern, wenn der sachlich falsche Mythos einer "Islamisierung" nicht zur Grunderzählung sowohl islamisch-fundamentalistisch wie islamfeindlich-rechtspopulistischer Bewegungen geworden wäre. Beide mobilisieren ihre Anhängerschaften mit einem angeblich bevorstehenden, gesellschaftlichen und demografischen "Sieg des Islam", der die realen, sehr viel komplexeren Entwicklungen des islamischen Lebens in Deutschland und weltweit völlig verkennt.
So habe ich eben nicht nur in Deutschland, sondern gerade auch im Irak unter vielen Muslimen sehr starke Glaubenszweifel erlebt, die mit dem massiven Missbrauch der Religion durch autoritäre Regime, durch Terrormilizen und korrupte Funktionäre begründet wurden. Ebenso, wie auch die christlichen Kirchen während und nach dem Dreißigjährigen Krieg in eine tiefe Krise gerieten, so sind auch Muslime nicht "von Geburt an gleichbleibend religiös", sondern machen Erfahrungen, machen sich Gedanken, setzen sich mit Zweifeln auseinander und ziehen für ihr Leben und Verhalten mehr oder weniger öffentliche Schlussfolgerungen.
Über Verschwörungsmythen und Radikalisierungsprozesse unter Muslimen ist zuletzt sehr viel geforscht und geschrieben worden – es wird für ein realistisches Gesamtbild allerhöchste Zeit, auch die Säkularisierungsprozesse und den "stillen Rückzug" statistisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich in den Blick zu nehmen.
Gerade auch im Hinblick auf Angst- und Hassprediger gilt es klarzustellen: Deutschland und die Welt werden heute ebenso wenig "islamisiert" wie sie am Anfang des 20. Jahrhunderts "judaisiert" wurden. Stattdessen tritt neben die zunehmende, religiöse Vielfalt eine schnell wachsende Zahl an Menschen, denen ihre religiöse Herkunft keinen Monatsbeitrag mehr wert ist und die das Weihnachts- oder das Zuckerfest nur noch als kulturelle Traditionen begehen. Man mag das je nach Standpunkt beklagen oder begrüßen – ignorieren sollte man es nicht.
Michael Blume
© Qantara.de 2016