Angst ist ein schlechter Ratgeber

Erneut wurde eine europäische Hauptstadt zum Ziel von Terroristen. Der jüngste Anschlag im Herzen von London zeigt unsere Verwundbarkeit durch extremistischen Hass. Wir können die Terroristen nur besiegen, wenn wir uns die Lebensfreude nicht nehmen lassen, meint der niederländische Publizist Joris Luyendijk.

Von Joris Luyendijk

Als am Mittwochnachmittag (22.3.2017) die ersten Nachrichten aus Westminster eintrafen, fühlte ich mich an Jerusalem im Jahr 2002 erinnert. Damals arbeitete ich als Nahostkorrespondent und die Welle der palästinensischen Selbstmordattentate erreichte gerade ihren Höhepunkt.

Einige Attentate fanden unmittelbar vor unserem Haus statt. Einmal fand ein Nachbar sogar die Hand eines Opfers in seinem Garten. Ein anderes Mal wurde ich Zeuge, wie sich ein Terrorist mit seinem Opfer vor meinen Augen in die Luft sprengte. Meine Aufgabe bestand darin, in den Gazastreifen zu fahren und aus erster Hand über die mit Raketen und Kampfhubschraubern geführten israelischen Vergeltungsschläge zu berichten.

Jene Tage waren traumatische Erfahrungen. Aber sie lehrten mich wertvolle Lektionen über Terrorismus und Angst. Die erste ist: Ein Terrorangriff richtet sich nicht gegen die Menschen, die dabei ermordet werden. Ein Terrorangriff richtet sich gegen die Überlebenden: gegen dich und mich. Für einen Terroristen ist der Tod eines Unschuldigen nur Mittel zum Zweck. So viele Menschen wie möglich sollen dabei in Angst und Schrecken versetzt werden.

Ihre einzige Waffe ist die Angst

Ein Sprichwort lautet: "Angst ist ein schlechter Ratgeber". Terroristen wollen möglichst viele von uns terrorisieren. Angst soll unser vorherrschendes Gefühl beim Blick auf die Welt werden. Denn Terroristen wissen, dass angsterfüllte Menschen nicht mehr rational handeln, was die ohnehin schwierige Lage oftmals verschlimmert. Terroristen nehmen unsere Emotionen ins Visier. Ein anderes Ziel bleibt ihnen nicht, denn sie haben keine Armee.

Die zweite Lektion ist: Jeder Terrorangriff ist eine Einladung, sich ebenso mit Hass aufzuladen wie die Terroristen selbst. Wir sind versucht, unsere Angst in Wut umzumünzen und diese Wut an anderen auszulassen. An ganz gewöhnlichen Muslimen beispielsweise. Als ob diese etwas dafür könnten, dass jemand eine Gräueltat im Namen ihrer Religion verübt. Oder an „politisch korrekten Politikern“.

Britische Hauptstadt von Terrorangriff erschüttert

Schüsse fallen: Am frühen Nachmittag wird von Schüssen und Schreien in den Außenanlagen des Parlamentsgebäudes in London berichtet. Die Einsatzkräfte eilen zumTatort, das Unterhaus wird abgeriegelt. Die ersten Berichte kommen von Parlamentsreportern, die die Gebäude verlassen durften.

Europäische Populisten – wie Geert Wilders in den Niederlanden – spielen ihr Spiel maliziös: Im Nachgang zum Terrorangriff auf einen Berliner Weihnachtsmarkt twitterte er Bilder von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit blutbefleckten Händen. Wilders Botschaft: Würde ich regieren, gäbe es keine Terrorangriffe mehr.

Was Wilders und andere Populisten, die dieses Spiel spielen, niemals erklären: Wie wollen sie es als erste Politiker in der Geschichte der Menschheit schaffen, Terrorangriffe ein für alle Mal auszumerzen? Sogar unter den brutalsten Regimen – wie dem von Saddam Hussein im Irak – gab es weiterhin Terrorangriffe. Würden Wilders und seinesgleichen in Regierungsverantwortung stehen, gingen die Attentate weiter und es gäbe neue, noch extremere Figuren, die sagten: Würde ich regieren, dann...

Wilders und andere nutzen einen einfachen, aber sehr wirksamen Bewältigungsmechanismus: Lernt nicht, mit eurer Angst umzugehen! Denn ihr müsstet gar keine Angst haben! Wenn doch nur diese "politisch korrekten" Politiker tun würden, was jetzt zu tun wäre.

Der Umkehrschluss ist ebenso widerwärtig wie lächerlich, denn er lautet: Merkel, Rutte oder May könnten sehr wohl die Ermordung unschuldiger Menschen stoppen, aber tun es nicht, weil dies nicht "politisch korrekt" wäre. Die Geheimdienste, die rund um die Uhr daran arbeiten, den nächsten Terrorangriff zu vereiteln – und darunter fallen auch V-Leute, die täglich ihr Leben riskieren – müssten demnach auch Teil dieser Verschwörung zugunsten politischer Korrektheit sein.

Gedenkveranstaltung am Trafalgar Square in London; Foto: L. Hurley/picture-alliance
"Ein Leben in Angst ist nur ein halb gelebtes Leben": Gedenkveranstaltung für die Opfer des Anschlags am Londoner Trafalgar Square. Am letzten Mittwoch hatte sich der mutmaßlich islamistische Attentäter Khalid Masood auf der Westminster-Brücke in London mit seinem Auto Fußgänger angefahren und dabei eine 43-jährige Britin und einen 54-jährigen US-Touristen getötet. Anschließend erstach er einen 48-jährigen Polizisten vor dem Parlament, bevor er selbst von der Polizei erschossen wurde.

"Wir werden nicht zulassen, dass uns das Böse spaltet"

In dieser Hinsicht gab es einen auffälligen Unterschied zwischen einigen kontinentaleuropäischen Reaktionen auf den Anschlag von letztem Mittwoch und denen in Großbritannien. Angesichts ihrer leidvollen Erfahrung mit dem IRA-Terrorismus der Vergangenheit wissen die Briten, wie man es vermeidet, den Terroristen in die Hände zu spielen.

Der konservative Daily Telegraph machte nach dem Anschlag mit der Schlagzeile auf: "Wir werden nicht zulassen, dass uns das Böse spaltet". Der bekannte und gleichermaßen rechtskonservative Kolumnist der London Times, David Aaronovitch, sagte es auf folgende Weise: "Die grausamen Anschläge der IRA haben uns gelehrt, unseren Verstand zu gebrauchen und nicht komplette Gemeinschaften pauschal zu beschuldigen."

Im Zeitalter der Smartphones finden Terroristen für ihre Gräueltaten ein größeres Publikum als je zuvor. Der Terrorangriff im Herzen Londons erfolgte fast auf den Tag genau ein Jahr nach den Attentaten in Brüssel, die wiederum ursprünglich für den Amsterdamer Flughafen Schiphol geplant waren.

Jedes europäische Land ist davon betroffen. Denn der Terrorismus ist mittlerweile Teil unserer globalisierten und eng vernetzten Welt. Für uns als einzelne Bürger und für uns als Gesellschaft insgesamt besteht unsere beste Verteidigung darin, mit den schlimmsten und furchtbarsten Gefühlen leben zu lernen: Schutzlosigkeit und Hilflosigkeit. Viele Menschen würden alles dafür geben, diese Gefühle zu vermeiden. Doch wie sagt ein englisches Sprichwort: Ein Leben in Angst ist nur ein halb gelebtes Leben.

Joris Luyendijk

© Qantara.de 2017

Aus dem Englischen von Peter Lammers

Joris Luyendijk studierte Arabistik und Politische Wissenschaften in Amsterdam und in Kairo. Mit 27 Jahren ging er als Korrespondent in den Nahen Osten und arbeitete dort für mehrere Medien. 2007 erschien "Wie im echten Leben. Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges", 2015 folgte das Sachbuch "Unter Bankern - Eine Spezies wird besichtigt" im Tropen-Verlag Berlin.