Mit Kultur gegen Rassismus
Es war nur ein Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte. Nachdem ein Polizist den 17- jährigen Nahel M. Ende Juni bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre erschossen hatte, kam es in Vorstädten in ganz Frankreich nächtelang zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Jugendlichen und der Polizei.
Es brannten Autos, Mülltonnen und Rathäuser. Die Feuer sind inzwischen wieder gelöscht. Das Land will Zerstörtes schnell wieder aufbauen. Doch die Wunden sitzen tief bei denjenigen, die ihre Wut bei diesen oder auch vorherigen Unruhen zum Ausdruck brachten. Damit sie heilen können, müsse der Staat grundlegende Reformen durchführen, sagen Kreative aus der Kulturszene.
Kulturangebote könnten dabei zumindest ein Stück weit Linderung verschaffen. Diese Wunden spürt auch Abdelwaheb Sefsaf. Der 53-Jährige ist seit Anfang des Jahres Direktor des Theaters von Sartrouville und dem Département Yvelines, zehn Kilometer nördlich von Nanterre.
Frankreichs Kolonialzeit ist wie ein "schwarzes Loch"
Sefsaf ist Sohn eines algerischen Paares, das 1948, als Algerien noch ein französisches Département war, in ein sozial schwaches Viertel in der Nähe von Saint-Etienne in Südost-Frankreich zog.
Sefsaf spricht von einem "tiefsitzenden, angeborenen Unwohlsein", das Menschen mit Wurzeln in den ehemaligen französischen Kolonien verspüren. "Wir alle müssen mit diesem schwarzen Loch in unserer Geschichte leben, das wie ein dunkles Familiengeheimnis auf uns lastet", sagt er im Interview mit der Deutschen Welle (DW).
"Denn in Frankreich vermittelt man viele dunkle Episoden der Kolonialgeschichte einfach nicht. Dadurch können auch Jugendliche in den Vorstädten ihre eigene Geschichte und Identität nicht genau definieren." Hinzu kämen Missstände wie hohe Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und ein schlechter Zugang zum Bildungswesen in manchen Brennpunktvierteln. Da sei es nur normal, wenn es regelmäßig zu Aufständen käme.
Auch 2005 war das zum Beispiel der Fall, nachdem zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einer Pariser Vorstadt zu Tode gekommen waren. "Denn auch wenn die jungen Leute sich dessen nicht bewusst sind, kämpfen sie doch täglich mit dem Trauma der Kolonialisierung", erklärt Sefsaf.
Der Regisseur hat seine eigene Form des Aufstands gefunden: Er inszeniert Teile der französischen Kolonialgeschichte, wie zum Beispiel die Deportation von mehr als 200 Algeriern in das französische Überseegebiet im Pazifik, Neukaledonien, im Jahr 1871, nachdem sie sich gegen die französische Kolonialherrschaft aufgelehnt hatten. "Das ist meine Art, den Schmerz zu lindern", sagt er. "Solche Theaterstücke können auch anderen helfen, mit dem Trauma umzugehen - wir Künstler können durchaus unseren Teil beitragen."
Das macht Sefsaf auch, indem er Theater-Workshops für Schulen in den Vorstädten organisiert und Schauspieler für seine Stücke unter anderem aus den betroffenen Vierteln rekrutiert. Und doch könne nur die Politik die Dinge grundlegend ändern, so Sefsaf.
"Der Staat muss die Kolonialgeschichte ganzheitlich vermitteln - nur das kann die Kolonisierten und die Kolonialherren miteinander versöhnen, ohne dass die Unterdrücker unbedingt für immer den Weg der Buße gehen müssten", findet Sefsaf.
Gleichzeitig müsse man mehr Geld in das Bildungswesen stecken, so dass es echte Chancengleichheit gebe. "Wenn ein junger Mensch ein Diplom oder eine Ausbildung hat, weiß er, er hat eine Chance auf ein gutes Leben in Frankreich. Ein Abschluss ist ein Mittel gegen die Verzweiflung, die viele verspüren", sagt er.
Frankreichs Rassismus gegen Migranten
Auch Benjamin Villemagne denkt, der Staat trage die Hauptschuld am Unbehagen vieler Menschen aus den Banlieues, den Vorstädten. Er ist Direktor der Pariser Theatertruppe La Quincaillerie Moderne und wie Sefsaf bei Saint-Etienne groß geworden. Der Sohn aus einer Arbeiterfamilie sagt, er selbst habe die "richtige" Hautfarbe.
"Aber viele meiner Freunde aus arabischen oder afrikanischen Familien werden ständig von der Polizei kontrolliert", meint Villemagne und spricht von "staatlichem Rassismus". Für Villemagne muss der Staat nicht nur das Bildungswesen erneuern: "Wir brauchen auch tiefgreifende Reformen des Justizwesens und der Polizei, um endlich gegen diesen Riss in der Gesellschaft vorzugehen."
Auch das Theater könne dabei eine Rolle spielen - allerdings müsse es sich grundlegend ändern. "Noch immer sieht man größtenteils klassische Stücke wie von Molière auf den Bühnen", sagt er. "Man sollte aber auch aktuelle Probleme wie die der Migranten in den Vorstädten thematisieren und sie ins Zentrum des Aufmerksamkeit rücken."
Ständige Polizeikontrollen
Ständige Polizeikontrollen hat der Musiker Kristo Numpuby erlebt. In Frankreich geboren verbrachte er seine ersten 22 Jahre im westafrikanischen Kamerun, bis er ins Zentrum von Paris, ins reiche 7. Arrondissement, zog.
"Einmal war ich zu spät zu einem Treffen mit meiner Schwester und rannte am helllichten Tag die Straße entlang. Da hat ein Polizeiauto kehrtgemacht und mich mit lauter Sirene verfolgt," sagt Numpuby.
"Die Beamten haben mich brüsk angewiesen, meine Hände auf die Motorhaube zu legen, und mich durchsucht. Dabei hatte ich gar nichts getan", erinnert er sich im Gespräch mit der DW.
Heute gibt der 59-Jährige Musikunterricht im Konservatorium von Saint-Denis, dem ärmsten Département Frankreichs bei Paris. Und er leitet Musikgruppen in Schulen, auch in sozial schwachen Gegenden. "Meine Schüler lernen, Musik aus aller Welt zu hören und sie zu spüren", sagt er.
"Manche von ihnen sind nicht gut in der Schule, aber in diesen Workshops sieht man, dass sie einen Sinn für bestimmte Musik haben, gerade wegen ihrer Kultur. Das gibt ihnen das Gefühl, auch etwas besonders gut zu können."
Mit Musik gegen Rassismus
Numpuby haben die jüngsten Unruhen nicht überrascht. "Beide Seiten hören sich gegenseitig nicht zu. Einerseits geht die Polizei automatisch davon aus, dass die Jugendlichen immer etwas im Schilde führen. Andererseits haben aber auch Jugendliche in der heutigen schnelllebigen Welt nicht mehr die Geduld zuzuhören und reagieren sofort auf Provokationen", meint er.
Gerade beim letzten Punkt könne die Musik helfen. "Durch sie bekommt man Abstand zu den Dingen. Musik hilft uns, Gefühle besser auszudrücken und zu kanalisieren – auch, weil sie uns Freude bereitet, die wie eine Schmerztablette wirkt", sagt er. "Außerdem muss man lange üben, um ein guter Musiker oder eine gute Musikerin zu werden. Diese Anstrengung, die Durchhaltevermögen verlangt, aber sich auch lohnt, gibt einem eine feste Struktur und eine Art von Sicherheit."
Ein Rettungsanker war die Musik in jedem Fall für Salomé Bossoku, in Frankreich geborene Tochter kongolesischer Einwanderer. Die 19-Jährige wuchs mit vier ihrer Geschwister und ihrer Mutter in Troyes auf, einer Kleinstadt etwa 150 Kilometer südöstlich von Paris. Als einzige Schwarze fühlte sie sich in der Schule früh isoliert.
"Seitdem ich vier Jahre alt war, wollte keiner mehr mit mir spielen, weil ich nicht so aussah wie sie", erzählt sie der DW. "In den Pausen war ich immer allein, also setzte ich mich auf eine Bank und sang." Obwohl die Mutter sich nur mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, schaffte sie es doch - auch durch staatliche Subventionen -, ihrer Tochter Musikunterricht im Konservatorium der Stadt zu ermöglichen.
"Die Musik war und ist mein Lichtblick, die Quelle meiner Kraft. All die Traurigkeit, die Wut und den Eindruck, nicht verstanden zu werden, konnte ich nie in Worte fassen - aber ich bringe diese Gefühle beim Singen oder Klavierspielen zum Ausdruck", sagt sie.
Bossoku findet, man solle mehr Jugendlichen die Möglichkeit zu regelmäßigem Musikunterricht geben: "Das würde ihnen einen anderen Weg zeigen, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen." Inzwischen studiert sie Design an einer Pariser Universität. Die Musik wird sie aber wohl ein Leben lang begleiten.
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