Wie Träume zertrümmert werden
Nahid al-Ramadhani begann seine Tagebücher im Wettlauf mit der Zeit, vor dem Ultimatum an den Irak, in dem das Land 1991 aufgefordert wurde, seine Truppen aus Kuwait abzuziehen. Noch hatte er die Hoffnung, dem drohenden Krieg zu entgehen. Der damalige Leutnant der irakischen Armee stellte sich selbst die Frage, warum er ihn überhaupt zum Schreiben drängte, wo ihn doch möglicherweise der Tod erwartete.
Und doch setzte er alles daran, seinen Traum zu verwirklichen, fegte allen Pragmatismus beiseite. Mit seinem „Ich will reden! Ich will schreien!“, drückte er den Wunsch aus, das Schreiben möge ihn retten – ein Wunsch, mit dem er nicht allein da steht.
Solche Äußerungen finden sich häufig in dieser ein wenig kuriosen Mischung aus Literatur, Autobiografie und Zeitchronik, in der sich Ramadhani als Erzähler und Protagonist zugleich präsentiert. Obwohl er anfangs nicht wusste, ob er ein Publikum finden und seine Worte überhaupt je gelesen würden, dokumentiert er darin die Situation in seiner Heimatstadt Mossul, einer Stadt, die er „den größten Friedhof der Welt“ nennt.
Der größte Friedhof der Welt
2015 auf Arabisch veröffentlicht, umfasst „The Hope Vendor“ (dt. Der Verkäufer der Hoffnung) den Zeitraum von 1991 bis Ende August 2014. Ramadhani offenbart, wie er sich als Chronist gefühlt hat, während sich die Situation immer mehr zuspitzte – vom Golfkrieg über die Sanktionen bis zum dramatischen Aufstieg des IS.
Das Buch beschreibt das Leben im Schatten des omnipräsenten Todes, der Angst unter einer Diktatur und des gewaltsamen „Regimewechsels“ von 2003. Manchmal fällt es schwer, zwischen den Erfahrungen des Autors und den äußeren Ereignissen zu unterscheiden. Obwohl Ramadhani über jüngere Katastrophen schreibt und weniger die Vergangenheit heraufbeschwört, erinnerte mich „The Hope Vendor“ an Orhan Pamuks „Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt“.
Die schriftstellerischen Ambitionen des optimistischen Protagonisten erleiden einen unglücklichen Rückschlag nach dem anderen. Ramadhanis Hoffnungen auf einen friedlichen Rückzug aus Kuwait werden durch den Ausbruch des Krieges von 1991 zerstört.
Er schreibt über die schockierende Niederlage des Irak, die erschütternde Zerstörung der Infrastruktur von Kuwait und die Befehle des Diktators, alle Dissidenten in der Armee kaltblütig umzubringen, indem man sie ohne Essen und Ausrüstung in der Wüste aussetzte. Die Soldaten entkamen dem Hungertod mit knapper Not, weil sie auf ein einsames Kamel stießen und ein blutiges Festmahl abhielten, an dem Al-Ramadhani nicht teilnehmen wollte.
Harsche Sanktionen und der Geist der Zensur
Unter so ungünstigen Bedingungen war ein Scheitern unvermeidbar. Der Autor berichtet von Momenten, in denen nur noch die innere Kapitulation möglich scheint, wo er hin- und hergerissen ist zwischen seinem Lebenswillen und dem Gedanken an Selbstmord als Mittel gegen die Demütigung. Schließlich kommt er als Kriegsgefangener nach Saudi-Arabien, wo er vier Monate verbringt. Saddam Hussein deutete dieses Debakel dennoch als „Sieg“.
Seit Ramadhanis Schilderungen des Irak der 1990er Jahre scheint sich wenig verändert zu haben. Man könnte sogar von einer Verschlimmerung der Situation sprechen:
„Trauernde alte Frauen, gebrochene Männer, schwere Geschosse, in den Himmel abgefeuert, überfüllte Züge, in Flaggen gehüllte Särge, schwarze Flugzeuge, die Städte bombardieren, Raketen, die auf arme Viertel abgeschossen werden, ausgemergelte Gestalten, zwanzigjährige Witwen, amputierte Gliedmaßen, und Augen ohne Licht“. So sah der Irak vor drei Jahrzehnten aus, und so sah ihn der Autor 2015 immer noch.
Wir lesen, wie sich das Leben unter ständigen Luftangriffen abspielt, hören von fluktuierenden Wechselkursen, Tagen des Elends und davon, wie sämtliche Projekte scheitern, die die Männer planen, um ihre Familie zu ernähren.
Eindringlich beschreibt Ramadhani Saddams widersprüchliches Verhalten: 1994 verhaftet er Islamisten, während er gleichzeitig seine Genossen von der Baath-Partei auffordert, Koransuren auswendig zu lernen. Manchmal schleicht sich ein politischer Ton in das Buch ein, etwa wenn der Autor den Mordanschlag auf Saddams Sohn und die Flucht seiner Schwiegersöhne nach Jordanien im Jahre 1995 erwähnt.
„Wozu haben wir Feiertage? Wozu soll das gut sein, in einem Land, das von einem Diktator regiert wird?“, macht sich Ramadhani frustriert Luft, wenn er einen Polizeistaat beschreibt, in dem die Menschen fürchten, dass sogar die Wände Ohren haben könnten.
Er schreibt von Kurzgeschichten, die in Schubladen verschwinden, damit ihr Autor der Zensur oder Schlimmerem entgeht. Vom Wunsch beseelt, im Irak demokratische Veränderungen zu erleben, registriert Ramadhani einen Kampf zwischen „einer Generation, die weiß, wie man sich verändert, es aber nicht wagt und einer Generation, die sich verändern will, aber nicht weiß wie – und dennoch zu Opfern bereit ist.“
1997 verließ der Autor den Irak, um in Gaddafis Libyen unter unsicheren Umständen als Lehrer zu arbeiten. Wir erfahren einiges über seine – zuweilen - prekäre Existenz und die Schwierigkeit, Ägypten zu durchqueren, als er mit dem Bus von Jordanien nach Libyen reist. Fünf Jahre später, im Jahre 2002, lebt Ramadhani in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo er Literaturpreise einheimst.
Der nächste Zeitsprung führt ins Jahr 2014, wo er wieder regelmäßig schreibt, bevor der IS immer mächtiger wird und weite Teile des Nordwestirak sowie Teile Syriens an sich reißt.
Hier bewegt sich Ramadhani auf zwei parallelen Zeitachsen: auf der einen beschreibt er seine Zeit in Libyen und seine Angst vor den Minenfeldern von Kurdistan in den späten 1980er Jahren, auf der anderen betätigt er sich als Chronist der politischen Umbrüche im Irak.
Wie viele andere Bewohner von Mossul wirft auch Ramadhani der Regierung vor, die Stadt aus machtpolitischem Kalkül an eine Terroristenbande ausgeliefert zu haben, um nämlich Nuri al-Maliki eine dritte Amtszeit zu sichern.
„Zwei Invasionen innerhalb von zehn Jahren“
2003 äußert Ramadhani seinen Zorn über den Einmarsch der US-Armee, die sich in den Straßen breit macht, und beschließt, sich der Besatzung zu widersetzen. Er fängt an, für eine Zeitung zu schreiben, die von Atheel al-Nujaifi unterstützt wird, dem späteren Gouverneur der Provinz Ninive, deren Zentrum Mossul ist.
Konfrontiert mit ständigen Werbeanfragen der US-Armee und dem Druck der Islamisten, die ihre Terrorpropaganda veröffentlichen wollen, verlässt er die Zeitung bald wieder. Anschließend gründet er eine Privatschule, die sich Widerstand durch Bildung auf die Fahnen schreibt und den Schülern Wissen und „glückliche Erinnerungen“ vermittelt – etwas, das die neue Generation von Irakern dringend braucht. Wir müssen den Politikern und nicht den Soldaten die Schuld geben, sagt Ramadhani, weil „Soldaten gezwungen sind zu kämpfen“.
Als er den erzwungenen Exodus der Christen aus Mossul beobachtet, beklagt er den Verlust einer jahrhundertelangen friedlichen Koexistenz und die Vernichtung der einzigartigen Identität seiner Stadt. Auf der Flucht vor den Geistern des IS hält sich Ramadhani lieber an glückliche Erinnerungen, etwa wenn sein Theaterstück „Amado“ auf Deutsch in Luxemburg aufgeführt wird.
Obwohl er die großräumige Zerstörung voraussagt, die die Rückeroberung von Mossul mit sich bringen wird, schließt Ramadhani seine Chronik der letzten drei Jahrzehnte auf einer hoffnungsvollen Note. Er erinnert uns daran, dass der Irak Kriege, Tod und Zerstörung überstanden hat, viele Jahre lang, und sich auch diesmal wieder aus der Asche erheben wird.
Gilgamesh Nabeel
© Qantara.de 2019
Übersetzung aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff