Unbändiger Freiheitswille
Die namenlose junge Frau in El Hachmis neuem Roman weiß genau, was sie will: Lesen, Studieren und sich über Nietzsches Zarathustra ebenso Gedanken machen wie über die Minnedichtung des Mittelalters. Sie und ihr Studienfreund A sind "Fachleute der Liebe, will sagen: in der Theorie. Nun ja, ich bin die Theoretikerin, er hat noch sein anderes Leben, ein glückliches, wohlgeordnetes Leben, über das wir nie sprechen.“
Trotz dieser klaren Selbsteinschätzung muss sie ihr Studium vorzeitig abbrechen. Begabung, Interesse, Wissbegier helfen ihr nicht weiter, sie verliert ihren Studienfreund aus den Augen und ist gezwungen, einen Job als Putzkraft in einem Kloster anzunehmen. Hilflos muss sie mit ansehen, wie andere über ihr Leben entscheiden.
Sie schämt sich für ihre "Tatenlosigkeit“ und kann sich kaum noch im Spiegel anschauen. Es ist nicht nur ihre Mutter, deren Willen sie sich beugt, es sind auch die Nachbarinnen im Wohnviertel und die vielen Verwandten in Marokko, die alle gemeinsam von ihr verlangen, dass sie eine arrangierte Ehe mit ihrem Cousin eingehen soll.
Dass sie sich diesem geballten Willen auf Dauer nicht widersetzen kann, scheint nachvollziehbar. Sie tröstet sich damit, später doch noch zu studieren und sich als verheiratete Frau beruflich weiterzuentwickeln. Vorderhand bleibt ihr nicht viel Freiraum, um ihre Wünsche nach einem selbstbestimmten Leben nach westlichen Maßstäben durchzusetzen. Trotzig glättet sie sich ihre lockigen Haare mit Föhn und Glätteisen und führt so ihren "Kampf gegen das krause Erbe.“
Der Blick der jungen Frau auf sich selbst ist bestechend klar. Sie weiß, dass sie sich beugen muss, wenn sie ihre Mutter nicht tief verletzen will. Doch zugleich erkennt sie, dass ihre Situation weitaus besser ist als die vieler anderer junger Frauen, die ihren späteren Ehemann nicht kennen und einen gänzlich Unbekannten heiraten müssen. Ihre Situation ist zwar nahezu unerträglich, dennoch versucht sie sich mit der Frage zu trösten: "Gibt es nicht viele Zweckehen, aus denen doch noch Liebe wurde?“
Martyrium - oder doch ein Ausweg aus der Misere?
In einem mitreißenden Monolog macht uns die Erzählerin zu Zeugen ihres unbändigen Freiheitswillens. Nie kann man als Leser einschätzen, ob sie einem Martyrium entgegengeht oder doch noch einen Ausweg aus ihrer Misere finden wird. So will sie nach außen hin stets als angepasste Tochter gelten, unternimmt Reisen nach Marokko, um die geplante Ehe vorzubereiten, die Verwandten und den zukünftigen Ehemann zu treffen und gemeinsam mit ihrer Mutter alle nötigen Schritte einzuleiten. Gleichzeitig aber bleibt sie unangepasst und voll innerer Distanz zu jenen Menschen, die sich der Sprache ihrer Mutter bedienen – einer Sprache, die sie selbst nicht gut genug beherrscht, um von den Dingen zu sprechen, die ihr wichtig sind.
So weiß sie nicht, wie sie auf Arabisch jene "Lust“ ausdrücken soll, die ihren Körper durchströmt, wenn sie am Fluss spaziert und "den kühlen Stein unter den Fußsohlen“ spürt. Auch Wörter aus dem sexuellen Kontext wie Masturbation, Orgasmus, Wonne oder Ekstase fehlen ihr, ja sie scheinen in der Sprache ihrer Mutter schlichtweg nicht zu existieren.
Es scheint, als ob das Pendel im weiteren Verlauf des Romans in Richtung Martyrium ausschlägt. Zwar erweckt es den Eindruck, als ob die junge Frau allen Anforderungen gewachsen wäre, doch der Druck, der auf ihr lastet, wächst stetig weiter an.
Innenansichten einer arrangierten Ehe
El Hachmi begnügt sich nicht damit, die innere Zerrissenheit ihrer jungen Protagonistin zu schildern und zu beschreiben, wie sie versucht, eine Balance zwischen den Anforderungen, die an sie gestellt werden, und ihren eigenen Ansprüchen zu finden.
Sie interessiert sich auch für die genauen Details im Alltagsleben einer jungen Muslimin, die selbst aktiv werden muss, um dem Willen der Familie nachzukommen.
Was ist nötig, um den Nachzug eines Verwandten aus Marokko nach Spanien zu ermöglichen? Wie sieht die finanzielle Seite einer "Zweckehe“ aus? Was muss der Ehemann, was muss die Familie der Ehefrau beisteuern? Auf solche Fragen gibt der Roman ebenso Antwort, wie er die persönlichen Erfahrungen mit einer arrangierten Ehe aus nächster Nähe schildert.
In derselben Offenheit, mit der die Erzählerin über ihr Innenleben spricht, fasst sie auch ihre Enttäuschung über ihren Ehemann in Worte, nachdem dieser angereist war und die "internationale Hochzeit“ gefeiert wurde (die Feierlichkeiten fanden sowohl in Spanien als auch in Marokko statt). Nun sind die Zumutungen für die junge Frau kaum noch zu überbieten.
Sie muss nicht nur für die Wohnung sorgen und erfährt bei der Wohnungssuche mit ihrem muslimischen Namen die übliche Diskriminierung. Sie muss sich auch um die notwendigen Papiere für die Aufenthaltsberechtigung des Ehemanns kümmern. Außerdem genügt es nicht, dass sie als Reinigungskraft arbeitet, sie muss sich noch einen zweiten Job suchen, um die finanziellen Voraussetzungen für ihr gemeinsames Leben zu schaffen.
Dass angesichts dieser Umstände der Sex für sie unbefriedigend verläuft, ist kaum noch überraschend. In der Hochzeitsnacht liegt sie neben ihm, es ist, "als wäre ich durchlöchert worden und könnte durch dieses Loch auslaufen wie durch einen Abfluss.“ Tatsächlich ist dieser Mann, der sich jeden Abend auf sie "wirft“, für sie fast noch ein "Unbekannter“, mit "seiner faden Zunge, die er mir in den Mund steckt, und ungeschickten Händen, die mich anpacken, als sei ich ein Spielzeug“. Wie groß die Distanz zu ihm und seiner Familie tatsächlich ist, deutet die Autorin geschickt auch dadurch an, dass sie vom "Cousin-Ehemann“ und der "Tante-Schwiegermutter“ spricht.
Persönlicher Tonfall und authentische Sprache
An diesem Tiefpunkt im Leben ihrer Protagonistin angelangt, beweist El Hachmi ihr großes literarisches Können. Sie behält die Abwärtsspirale fest im Blick und schreckt nicht davor zurück, die wachsenden Zumutungen durch den Ehemann, die Gesellschaft und ihre Mutter zu schildern. Es scheint, als müsste die junge Frau um jeden Millimeter Freiheit kämpfen; nur ihr waches, genaues Denken bewahrt sie davor, den Mut zu verlieren: "Mein Kopf hält einen unmöglichen Monolog, einen Monolog als Antwort auf die Frage, die mir Leute, die mich kennen, stellen könnten (…)“.
Als ihr Mann von ihr verlangt, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen, wehrt sie sich heftig. Doch auch ihre Mutter drängt sie dazu, "wegen deinem Onkel und deiner Tante (…)“. Am nächsten Morgen überwindet sie sich und legt sich schweren Herzens eine schwarze Funara an: "Als ich vor dem Spiegel das Kinn hebe, um die Sicherheitsnadel anzubringen, komme ich mir vor wie ein Lamm, dem der Kopf nach hinten gestreckt wird, um ihm die Kehle durchzuschneiden.“
Alles scheint sich gegen sie verschworen zu haben. Sie muss ihre zwei Jobs machen, um den Ehemann zu finanzieren, der keine Arbeitsberechtigung besitzt. Er ist nicht "aufgeweckt“ genug wie andere Männer in seiner Lage, um etwas zu finden, "was er ohne Vertrag machen könnte.“ Stattdessen verbringt er den Tag mit Freunden im Café. Schließlich beschwert er sich bei ihr sogar über ihre fehlende Zärtlichkeit im Bett…
Ein ungewöhnlich eindringlicher Roman über den alltäglichen Kampf einer jungen Muslimin, der nie ins Moralisieren oder Lamentieren verfällt, sondern stets nach Auswegen und Fluchten aus ihrer schwierigen Situation sucht. Der Roman, mit dem die Autorin mehrere Preise in Spanien gewann, glänzend von Michael Ebmeyer übersetzt, besticht durch seinen persönlichen Tonfall und sein hohes Maß an Authentizität.
© Qantara.de 2021
Najat El Hachmi: "Eine fremde Tochter“, aus dem Katalanischen von Michael Ebmeyer, Orlanda Verlag, Berlin 2020, 225 Seiten
Najat El Hachmi, 1979 in Marokko geboren und in Katalonien aufgewachsen, hat erstmals 2004 mit dem vieldiskutierten Essay "Jo també sóc catalana" (Auch ich bin Katalanin) von sich reden gemacht. 2008 gewann sie mit "Der letzte Patriarch" überraschend den Premi Ramon Llull, den wichtigsten und höchstdotierten katalanischen Literaturpreis.