Leuchtfeuer der Zivilisation
Ich habe mein ganzes Leben an den Grenzen des europäischen Kontinents verbracht. Vom Fenster meines Hauses oder meines Büros habe ich über den Bosporus geblickt und auf der anderen Seite Asien gesehen. Wenn ich also über Europa und über die Moderne nachgedacht habe, dann habe ich mich, wie der Rest der Welt, immer ein kleines bisschen provinziell gefühlt.
Wie die vielen Millionen, die außerhalb der westlichen Welt leben, musste ich meine eigene Identität begreifen, während ich Europa nur aus der Ferne betrachtete. Und so habe ich mich in diesem Prozess meiner Identitätsfindung oft gefragt, was Europa für mich und für uns alle bedeuten könnte. Diese Erfahrung teile ich mit der Mehrheit der Weltbevölkerung, aber weil Istanbul, meine Stadt, dort liegt, wo Europa anfängt - oder vielleicht dort, wo es endet -, waren meine Gedanken und meine Ressentiments stets noch etwas drängender und etwas beständiger.
Ich komme aus einer der vielen Istanbuler Familien der oberen Mittelschicht, die sich die verwestlichenden, säkularisierenden Reformen, die von Kemal Atatürk, dem Gründer der Türkischen Republik, in den zwanziger und dreißiger Jahren durchgeführt wurden, voll und ganz zu eigen gemacht haben. Für uns, die wir in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Istanbul ein Leben der oberen Mittelschicht führten, war Europa mehr als nur ein Ort, um Arbeit zu finden, mit dem wir Handel treiben konnten oder dessen Investoren wir anzulocken versuchten; es war in erster Linie ein Leuchtfeuer der Zivilisation.
Träume freier fliegen zu lassen
An dieser Stelle sollte ich eine wichtige Tatsache hervorheben: Die Türkei ist in ihrer Geschichte nie von irgendeiner westlichen Macht kolonisiert worden, sie wurde nie vom europäischen Imperialismus unterdrückt. Das hat es uns später erlaubt, unsere Träume von einer Verwestlichung im europäischen Stil freier fliegen zu lassen, ohne dass dadurch zu viele schlimme Erinnerungen oder Schuldgefühle aufgewühlt worden wären.
Vor acht Jahren versuchte ich, meine Zuhörer zu überzeugen, wie wunderbar es für uns alles wäre, wenn die Türkei der Europäischen Union beitreten würde. Im Oktober 2004 hatten die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU einen Höhepunkt erreicht. Die öffentliche Meinung und ein Großteil der Presse in der Türkei schienen glücklich zu sein, dass offizielle Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei beginnen sollten.
Immer lauterer Chor des Protests
Einige türkische Zeitungen spekulierten optimistisch, dass die Dinge sich vielleicht sehr schnell entwickeln würden, und die Türkei womöglich innerhalb von zehn Jahren, bis zum Jahr 2014, den Status eines Vollmitglieds der EU erreichen könnte. Andere Zeitungen druckten Märchengeschichten über die Privilegien, die türkische Bürger einmal erlangen würden, sobald die Vollmitgliedschaft gesichert wäre.
Vor allem würden Investitionen getätigt werden, und ungeahnte Reichtümer aus den verschiedenen Fonds der EU fänden ihren Weg in die Türkei, sodass wir, wie die Griechen, auf der sozialen Leiter einen kollektiven Schritt nach oben steigen und so bequem leben können würden wie andere Europäer.
Zur gleichen Zeit wurde der Chor des konservativen, nationalistischen Protests gegen einen möglichen Beitritt der Türkei in die Union immer lauter, vor allem in Deutschland und Frankreich. Ich fand mich inmitten dieser Debatte wieder und fing an, mich (und auch andere) zu fragen, was Europa wirklich bedeutete.
Wenn die Religion die Grenzen Europas markiert, so dachte ich, dann ist Europa eine christliche Zivilisation - und in diesem Fall mag die Türkei, deren Bevölkerung zu 99 Prozent muslimisch ist, zwar geografisch zu Europa gehören, hat aber keinen Platz in der Europäischen Union.
Aber wären die Europäer mit einer derart engen Definition ihres Kontinents zufrieden? Es war schließlich nicht das Christentum, das Europa für Menschen, die in der nicht-westlichen Welt leben, zum Vorbild gemacht hat, sondern eine Reihe sozialer und wirtschaftlicher Transformationen, und die Ideen, die aus diesen im Laufe der Zeit erwachsen sind.
Diese nicht greifbare Kraft, die Europa im Verlauf der vergangenen zwei Jahrhunderte zu einem solchen Magneten für den Rest der Welt gemacht hat, ist, um es einfach zu sagen, die Moderne. Wie uns unsere vertrauenswürdigen Geschichtsbücher lehren, ist die Moderne das Produkt solch durch und durch europäischer Entwicklungen wie der Renaissance, der Aufklärung, der Französischen Revolution und der industriellen Revolution. Und entscheidend dabei ist, dass die Kräfte hinter diesen Paradigmenwechseln nicht religiös, sondern "säkular" waren.
Wann immer vor einigen Jahren das Thema der Europäischen Union diskutiert wurde, habe ich gesagt, dass die Türkei der EU beitreten sollte, sofern sie die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit respektiert. "Aber respektiert die Türkei denn diese Prinzipien?", fragten mich die Leute dann zu Recht - und so begann die Debatte von vorne. Wenn ich mich heute an jene Zeiten erinnere, dann kann ich nicht anders, als nostalgisch darüber zu werden, wie leidenschaftlich wir, sowohl in der Türkei als auch in Europa, über die Werte diskutiert haben, für die Europa stehen sollten.
Ein dunkler Schatten von Zweifel
Heute, da Europa mit der Euro-Krise kämpft und die Erweiterung der EU sich verlangsamt hat, machen sich nur noch wenige von uns die Mühe, über diese Themen nachzudenken und zu sprechen. Und unglücklicherweise ist das positive Interesse, das es an einer möglichen zukünftigen Mitgliedschaft der Türkei gab, ebenfalls geschwunden.
Das liegt zum Teil daran, dass die Gedankenfreiheit in der Türkei nach wie vor beklagenswert unterentwickelt ist. Aber der wichtigste Grund ist zweifellos der starke Zustrom muslimischer Einwanderer aus Nordafrika und Asien nach Europa, der in den Augen vieler Europäer einen dunklen Schatten von Zweifel und Angst über die Vorstellung wirft, dass ein überwiegend muslimisches Land der Union beitreten könnte.
Es ist deutlich, dass diese Angst Europa dazu bringt, Mauern an seinen Grenzen zu errichten und sich stückweise von der Welt abzuwenden. Und während der Leitspruch von Liberté, Egalité, Fraternité allmählich in Vergessenheit gerät, wird Europa sich leider in einen zunehmend konservativen Ort verwandeln, der von religiösen und ethnischen Identitäten beherrscht wird.
Orhan Pamuk
Orhan Pamuk, geboren 1952 in Istanbul, ist Nobelpreisträger für Literatur. Der hier abgedruckte Text ist ein Auszug aus seiner Dankesrede zur Verleihung des Sonning Prize für europäische Kultur in Kopenhagen.
© Süddeutsche Zeitung 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de