"Mein Land habe ich nie vergessen"
Hafida Khatib liegt in eine Decke gewickelt auf der Couch, ihr hohes Alter zieht sich in feinen Falten durch ihr lächelndes Gesicht. "Ich lebe nun schon 70 Jahre im Libanon, aber mein Land, Palästina, habe ich nie vergessen", sagt die fast 90-jährige Frau.
Hafida Khatib ist im palästinensischen Flüchtlingslager Burj el-Barajneh im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut untergekommen. Die Wege dort sind schmutzig und eng. Die Camp-Bewohner sagen oft zynisch, dass noch nicht einmal ein Sarg durch die Gassen passe. Über den Köpfen der Menschen baumelt ein bizarres Gewirr aus Telefonkabeln, Drähten und Hochspannungsleitungen. Bei Regen kommen immer wieder Bewohner durch Stromschläge ums Leben. Etliche Häuser sind schäbig und einsturzgefährdet. Hafida Khatib lebt in einer kleinen Erdgeschoss-Wohnung, denn ihr wurde vor drei Jahren aufgrund ihrer Diabetes-Erkrankung ein Bein amputiert.
Ohne Hilfe wäre ihre Wohnung in dem zugebauten und verwinkelten Flüchtlingslager nicht zu finden. Denn was einst als Übergangslösung für die Palästinenser gedacht war, ist mittlerweile ein Wohnort für mehrere Generationen geworden. Das Camp ist überfüllt: Offiziell leben heute über 18.000 registrierte Palästinenser dort, durch den Zuzug der syrischen Flüchtlinge in den vergangenen Jahren sollen es inzwischen 40.000 Menschen sein. Knapp die Hälfte von ihnen ist jünger als 25 Jahre. Viele kennen kein anderes Leben.
"Ich erinnere mich an alles"
Hafida Khatib kannte ein anderes Leben. 19 Jahre war sie alt, als sie mit ihrer Familie 1948 im israelisch-arabischen Krieg in den Libanon floh. Damals haben sie in Deir al-Qassi gewohnt, 20 Kilometer von Akko entfernt. Die Luft sei so frisch gewesen, erinnert sie sich - nicht so stickig wie im Flüchtlingslager. "Wenn ich zurück könnte, dann wüsste ich noch genau, wo unser Haus stand. Ich erinnere mich noch an alles, an unser Leben, unser Land, die Dörfer", sagt sie wehmütig. "Mein Vater hat mir damals gesagt, wir würden nicht lange im Libanon bleiben müssen. Er sprach von drei bis vier Wochen", erzählt Hafida Khatib. Ihr offenes Lächeln wirkt melancholisch: "Wir haben es wirklich alle geglaubt." 70 Jahre später ist sie immer noch im Libanon.
Nicht nur sie schwelgt in Erinnerungen an ihr Leben in Palästina, das sie hinter sich lassen musste. Die Vergangenheit hat auch die Gassen des Flüchtlingslagers fest im Griff. Immer wieder stechen dieselben Worte zwischen dem Kabelgewirr hervor: "Viva Palestine" oder "Haq al-Awda" - "Recht auf Rückkehr". Mal sind die Worte auf palästinensische Banner gedruckt, mal auf Hauswände gesprüht. Auch das Konterfei des 2004 verstorbenen Palästinenserpräsidenten Jasser Arafat ist allgegenwärtig.
Flucht und Vertreibung
Während Israel seine Unabhängigkeit am 14. Mai 1948 ausrief, markierte der 15. Mai für die Palästinenser den Beginn ihrer Flucht und Vertreibung. Sie nennen diesen Tag seither "Nakba", die Katastrophe. Am 30. Oktober 1948 holte die Katastrophe auch Familie Khatib ein. Der Krieg zwischen Ägypten, Libanon, Syrien, Irak und Jordanien einerseits und Israel auf der anderen Seite war schon in vollem Gang, als israelische Milizen das Dorf Deir al-Qassi eroberten.
Hafida Khatib und ihre Familie hatten die Taschen schon gepackt. Hunderte andere palästinensische Dörfer waren in den Wochen zuvor bereits eingenommen worden: "Wir hatten nur das Nötigste dabei. Dann haben wir die Tür von unserem Haus abgeschlossen und sind los." Aus Angst vor Gewalt flohen Hafida Khatib, ihr Vater und ihre fünf Geschwister über die nur wenige Kilometer entfernte Grenze in den Libanon.
Die Mutter war gestorben, als Hafida noch ein kleines Mädchen war. "Neben unserem Dorf lag damals ein christliches Dorf. Wir haben gemeinsam das Land bestellt", erinnert sich die bald 90-Jährige. "Auch unsere jüdischen Nachbarn kamen oft zu uns. Manchmal hatten sie selbstgemachten Joghurt dabei. Wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander - Muslime, Christen und Juden", sagt sie: "Keiner von unseren Freunden wollte, dass wir fliehen, aber die Angst war zu groß."
Wer nicht floh, wurde vertrieben. Bis Mai 1949 waren Deir al-Qassi und die umliegenden Orte unter israelischer Kontrolle. Heute erinnern nur noch wenige verfallene Ruinen an die palästinensische Bevölkerung dieser Dörfer. Auch die Dorfnamen wurden geändert: aus Deir al-Qassi wurde Elkosh.
Bis zum Ende des Krieges im Juni 1949 waren etwa 750.000 Palästinenser geflohen oder vertrieben worden. Einige leben seither in Flüchtlingslagern im Gazastreifen oder im Westjordanland. Die meisten aber fanden Schutz in den angrenzenden Staaten Libanon, Jordanien und Syrien. Ein Gesetz aus dem Jahr 1950 erlaubte es dem Staat Israel, den Besitz von abwesenden Palästinensern zu enteignen.
Sie sei zwar aus keiner wohlhabenden Familie gekommen, aber damals hätten sie ein kleines Haus besessen, sagt Hafida Khatib. Den Schlüssel zu ihrem Haus in Deir al-Qassi habe sie immer noch. Ein Schlüssel für ein Haus, das heute nicht mehr existiert. Heute lebt sie zur Miete in zwei dunklen Zimmern in einem dicht besiedelten Flüchtlingslager. Palästinenser dürfen im Libanon kein Land und keine Immobilien besitzen. Das Geld dafür sei eh zu knapp gewesen, sagt sie. Aber sie beschwert sich nicht.
Festhalten an Palästina
Hafida Khatib hat nicht immer im Flüchtlingscamp Burj el Barajneh gelebt. Sie und ihre Familie lebten nach der Ankunft 1948 erst in Baalbek, in den Bergen des Libanon. "Als älteste Tochter habe ich schon früh die Mutterrolle übernehmen müssen", sagt sie. "Ich habe mich um alles gekümmert. Ich habe auch meine jüngeren Geschwister groß gezogen." Das geschah in dem Glauben, bald nach Hause zurückgehen zu können. "Ein wohlhabender, gut aussehender Libanese hat mir damals sogar einen Heiratsantrag gemacht", sagt sie leicht verschämt. "Aber ich habe mich gegen ihn entschieden. Er wäre ja nicht mit mir nach Deir al-Qassi gegangen."
Stattdessen heiratete sie ihren Cousin Ibrahim und bekam zehn Kinder. Er sei ein guter Ehemann gewesen und ein guter Vater. 1978 zogen sie mit den noch unverheirateten Kindern ins Lager Burj el Barajneh. Insgesamt zwölf offizielle Flüchtlingslager für Palästinenser gibt es im Zedernstaat - die UNRWA (Hilfswerk der UN für Palästina-Flüchtlinge) ist für sie zuständig, denn der Libanon übernimmt keine Kosten für die Palästinenser. Hafidas Ehemann starb vor acht Jahren, seither lebt sie alleine. "Wir hatten hier kein schlechtes Leben, aber eine wirkliche Chance bekamen wir und meine Kinder nicht."
Deshalb haben einige ihrer Kinder Asyl im Ausland beantragt. Gerade ist einer ihrer Söhne aus Dänemark zu Besuch gekommen. Zwei weitere Kinder sind in den USA, ein Sohn kam im libanesischen Bürgerkrieg 1976 ums Leben. Darunter leidet sie bis heute sehr. Immer wieder zeigt sie auf sein gerahmtes Foto, das über der Eingangstür hängt. Genau so, dass sie es von der Couch aus sehen kann. Ihre anderen sechs Kinder leben alle noch im Burj el Barajneh.
Keine guten Beziehungen zum Libanon
Die Palästinenser im Libanon wurden von keiner libanesischen Regierung jemals geachtet. Auch, weil die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) im Bürgerkrieg mitgekämpft hat. Im Libanon vererben palästinensische Flüchtlinge ihren Flüchtlingsstatus an ihre Kinder weiter. Sie dürfen in keinem akademischen Beruf arbeiten und werden schlechter bezahlt als ein gleichqualifizierter Libanese. Begründet wurde die Ausgrenzung offiziell stets mit dem Argument, eine vollständige Integration der Flüchtlinge im Libanon erschwere ihre Rückkehr in die Heimat.
Weder sie noch ihre Kinder fühlen sich als Teil der libanesischen Gesellschaft: "Wir wollten keine Dauergäste sein", sagt Hafidas Sohn Subhi Khatib aus Dänemark. "Wir wollen eine Heimat, in der man in Würde leben kann. Ich bin mit Palästina groß geworden, es lebt in meinem Herzen." In Dänemark fühlten er und seine Familie sich respektiert. Im Libanon wollte er nicht mehr leben.
[embed:render:embedded:node:14453]Obwohl das laute, bunte Beirut jenseits der Straße liegt, hat Hafida Khatib nie außerhalb des Camps leben wollen. Im Burj, wie es alle abkürzen, werde wenigstens noch die Erinnerung an Palästina aufrechterhalten. "Ich habe meinen Kindern immer palästinensische Gerichte gekocht. Sie sprechen auch alle den palästinensischen Dialekt." Auch die Geschichte der Nakba, der Katastrophe, habe sie ihren Kindern und Enkeln erzählt, damit auch sie die Ereignisse von damals weitertragen. "In den Schulen der UNRWA lernt man nicht die Geschichte Palästinas. Das ist nicht erlaubt", erzählt ihr Sohn.
Ein letzter Wunsch
450.000 Palästinenser sind beim UN-Hilfswerk im Libanon registriert. Doch auch wenn die tatsächliche Zahl niedriger sein sollte: Finanzielle Nöte sind ein Dauerthema - erst recht, seit US-Präsident Donald Trump die Zahlungen an die UNRWA eingestellt hat.
Hafida Khatib verlässt ihre Wohnung nur selten, seit sie auf den Rollstuhl angewiesen ist: "Die Straßen sind sehr schlecht. Meine Kinder kochen für mich, manchmal kommt eine Frau, die mir mit dem Nötigsten hilft." Den kleinen Marktplatz des Camps, den die Bewohner zynisch "Picadilly Circus" nennen, hat sie schon lange nicht mehr gesehen.
Eine Reise würde sie trotz ihrer bald 90 Jahre noch auf sich nehmen: "Ich träume davon, noch eine Woche in Palästina zu leben. Ich will noch einmal den Boden berühren und dann dort beerdigt werden", sagt sie und hält inne. Sie weiß, dass das nicht geschehen wird. Obwohl sie gemäß des Völkerrechts und der UNO-Resolution 194 ein Rückkehrrecht besitzt. Von diesem Recht will in Israel jedoch niemand etwas wissen. Sollte es eines Tages doch zu einem Verhandlungsprozess kommen, so befürchten viele der insgesamt rund fünf Millionen palästinensischen Flüchtlinge, würde ihr Recht auf Rückkehr dem Frieden geopfert werden.
Diana Hodali
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