Comeback für "Bibi“?
Von Aufbruchsstimmung oder gar Wahlkampffieber ist in Umm al-Fahim diesmal nichts zu spüren. Rund um den Kreisverkehr mit dem markanten Obelisken in der Mitte, der beim Besuch der drittgrößten arabisch-israelischen Stadt als erstes ins Auge springt, kleben zwar reihenweise Wahlkampfplakate an den Wänden.
Aber die Slogans sind nicht gerade zündend. Die moderaten Islamisten der "Vereinten Arabischen Liste“ (kurz Ra’am) werben in dicken Lettern auf grünem Grund dafür, "näher dran“ zu sein, das politische Geschehen zu beeinflussen. Letzteres wollen die Linken von Hadash, ehemals Kommunisten, auch, aber "mit Würde“, wie ihr knallrotes Poster verheißt.
Ganz nah dran an der Macht war Ra’am, die kleinste Fraktion in der bisherigen Knesset, bereits tatsächlich. Ein ganzes Jahr lang saß ihr Chef Mansour Abbas, ein islamistischer Realo, ausgestattet mit reichlich Leibesfülle und Charisma, mit am Kabinettstisch der ungewöhnlichsten Regierung, die Israel je hatte: einer Koalition aus acht Parteien, darunter erstmals seit Staatsgründung mit Ra‘am auch einer arabischen.
Mansour Abbas und die Pragmatiker von Ra’am
Als unverzichtbarer Mehrheitsbeschaffer vermochte Mansour Abbas einiges für den jahrzehntelang vernachlässigten arabischen Sektor rauszuholen. Sein vielleicht größter Erfolg: Drei von über dreißig staatlicherseits nicht anerkannten Beduinendörfern im Negev wurden legalisiert und damit an das Strom- und Wassernetz angeschlossen. Verteilt auf vier Haushaltsjahre versprach die Multi-Parteien-Regierung unter Naftali Bennett und Yair Lapid auch milliardenschwere Investitionen in die arabischen Kommunen.
Nur, "Geld für eine neue Schule nützt nichts, wenn es kein Grundstück dafür gibt“, klagt Mudar Younes, Bürgermeister zweier Dörfer im Umland von Umm al-Fahim, der zugleich dem Dachverband arabischer Gemeinderäte vorsteht. Geld allein ändere nichts an "unseren Hauptproblemen“: der strukturellen Diskriminierung, dem Mangel an Bauland, an Masterplänen, an Perspektiven und Sicherheit.
Nicht von ungefähr sind die arabischen Städte in Israel berüchtigt für Gewalt und organisierte Kriminalität. Allein in diesem Jahr fielen ihr über neunzig Menschen zum Opfer. Auch deshalb wird in Umm al-Fahim allenthalben geklagt, "in unserem Alltag hat sich nichts spürbar verbessert“.
Younes selbst steht, wie er bekennt, den Nationalisten von Balad (Heimat) nahe, die jegliche Zusammenarbeit mit einer "zionistischen Regierung“ ablehnen. Auf ihre kulturelle palästinensische Identität liegen die meisten der rund zwei Millionen Araberinnen und Araber mit israelischem Pass Wert. Aber die Prinzipienreiter von Balad sind gewissermaßen der Gegenpol zu den Pragmatikern von Mansour Abbas und seiner Ra’am.
Die Prinzipienreiter von der Balad-Partei
2015 gehörten beide noch zur "Gemeinsamen Liste“ (Joint List), bestehend aus allen vier arabischen Parteien, die es mit 15 Mandaten zur drittstärksten Kraft in der 120-köpfigen Knesset brachte. 2021 scherte Ra’am aus. Diesmal konkurrieren gleich drei verschiedene Listen um die arabischen Wählerstimmen: Ra’am, Balad sowie die linke Hadash im Bündnis mit Ta’al, der Partei von Achmed Tibi, dem bekanntesten arabisch-israelischen Politiker.
Ein bitteres Aufwachen droht ihnen am Wahlabend, falls ihre Kleinparteien es nicht über die 3,25 Prozenthürde schaffen. Aus Verdruss über die erneute Spaltung, die neben ideologischen Differenzen auf Egotrips zurückgeführt wird, will laut Umfragen weniger als die Hälfte der arabischen Wahlberechtigten an der Stimmabgabe teilnehmen.
Ex-Premier Benjamin Netanyahu kommt das gelegen. Je geringer die arabische Wahlbeteiligung, umso größer die Chancen, mit seiner ultrarechten, ultrareligiösen Allianz eine Regierungsmehrheit von 61 Parlamentssitzen zu erzielen. Hierin liegt ist ein Grund, warum "Bibi“, so sein Spitzname, auf seine in früheren Wahlkämpfen schon notorische Hetze gegen die Araber verzichtet. Offenbar hat Netanyahu verstanden, dass er damit viele erst recht an die Wahlurnen treibt.
Auf arabische Stimmen angewiesen
Umgekehrt gilt: Ohne die arabischen Stimmen wird das Mitte-Links-Lager Netanyahus Comeback nicht verhindern können. Yair Lapid, amtierender Premier und Chef von "Jesch Atid" (Es gibt eine Zukunft), gibt denn auch gleich reihenweise Interviews in den arabischen Medien, um die wahlmüden arabischen Israelis aus der Lethargie zu wecken. Sei es mit Bekenntnissen zur Zwei-Staaten-Lösung als Friedensvision oder auch mit dem Versprechen, das umstrittene Nationalstaatsgesetz, das die arabische Minderheit – immerhin ein Viertel der Gesamtbevölkerung – zu einer Art Bürger zweiter Klasse degradiert, um einen Gleichheitspassus ergänzen zu wollen.
Doch in Wahlkämpfen wird viel versprochen und längst nicht alles geglaubt. Wenn einer wirklich zur Mobilisierung der arabischen Minderheit beiträgt, dann ist das Itamar Ben-Gvir, ein in der rechtsradikalen Kach-Bewegung groß gewordener Provokateur, den Netanyahu salonfähig gemacht hat.
Ben-Gvir, Chef von "Otzma Yehudit" (Jüdische Macht/Jewish Force), der für die religiösen Zionisten in der Knesset sitzt, findet Gefallen daran, Tumulte anzustacheln, etwa im Ost-Jerusalemer Brennpunktviertel Sheikh Jarrah, wo er regelmäßig zur Unterstützung jüdischer Siedler aufkreuzt, sich mit palästinensischen Protestlern anlegt und dabei, wie jüngst geschehen, nach Cowboy-Manier seine Pistole zückt.
Nicht wenige jüdische Israelis sehen in Ben-Gvir, der das Oberste Gericht entmachten will, eine unmittelbare Gefahr für die Demokratie. Trotzdem dürfte seine rechtsextreme Fraktion mit ihm als Idol kräftig zulegen. Seine rassistischen Sprüche und Drohungen, "nicht-loyalen“ Arabern die Staatsbürgerschaft zu entziehen, kommen gerade bei Jüngeren an, weil endlich einer nicht herumrede, wie viele meinen. Ben-Gvir jedenfalls sieht sich schon jetzt als künftiger Polizei- oder Innenminister im Kabinett Netanyahu.
Marsch durch die Institutionen
Eine beängstigende Vorstellung, findet Yosef Jabareen. "Wir müssen die Leute bewegen, wählen zu gehen“, sagt er, "das ist für uns die zentrale Herausforderung.“ Jabareen, ehemals Knesset-Abgeordneter, sitzt in der lokalen Hadash-Wahlkampfzentrale in Umm al-Fahim, ausstaffiert mit Sperrholzmöbeln, Plastikstühlen und einem "Es lebe der Kampf der Arbeiterklasse“-Banner nebst Hammer und Sichel – Relikte aus vergangener Zeit.
Hadash, die einzige arabisch-jüdische Partei, hat sich längst den Zusatznamen "Demokratische Front für Frieden und Gleichheit“ verpasst. Ihr Frontmann ist der Bürgerrechtsanwalt Ayman Odeh, der eigentliche Vordenker einer arabischen Regierungsbeteiligung.
Als benachteiligte Minderheit, betont Jabareen, "müssen wir in alle israelischen Institutionen rein, um unsere Rechte zu verteidigen.“ Aber dafür brauche man ein breites gesellschaftliches Bündnis und keinen Alleingang von Mansour Abbas und seinen moderaten Islamisten von der Ra'am.
Mit cleveren Video-Clips wirbt derweil eine breite Koalition aus Nichtregierungsorganisationen der arabischen Zivilgesellschaft dafür, der eigenen Stimme Gehör zu verleihen – auch per Stimmzettel, versteht sich.
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