Bouteflikas ungewisse Zukunft
An Erneuerungsversprechen mangelt es nicht. Als der kranke algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika vor einigen Wochen zum ersten Mal wieder eine Sitzung des Kabinetts leitete, ging es ihm um nicht weniger als um sein Versprechen, "unseren Kindern ein blühendes Land zu hinterlassen". In der entsprechenden Erklärung war von Hoffnung, Effizienz und Transparenz in der Führung die Rede.
Für jene Algerier, die nicht zur Staatsführung oder zu deren Profiteuren gehören, klingen solche Worte immer wieder zynisch. Denn ein echter Erneuerungswille ist nicht vorhanden. Die Wochenendausgabe der Zeitung "El Watan" veröffentlichte Anfang des Monats auf ihrer Titelseite eine bissige Karikatur. Sie zeigte den Präsidenten als verwöhntes Kleinkind, das lieblos und rabiat mit seinen Spielfiguren – Männern in Uniform und Anzügen – umspringt. So gehe der Präsident, seit er 1999 an die Macht kam, mit den Institutionen, den Gesetzen und der Verfassung des Landes um, lautet die Botschaft. Vertreter der Zivilgesellschaft, Offiziere im Ruhestand und Oppositionspolitiker fordern, es müsse endlich echten Wandel geben, es müsse Platz für eine neue Generation geschaffen werden.
In Algier herrscht dieser Tage selbst nach landestypischen Maßstäben auffällige Unruhe. Im April 2014 soll die Präsidentenwahl stattfinden. Doch Bouteflika hat seine Zukunft oder Nachfolge noch immer nicht geregelt. Der Präsident war im April nach Frankreich gebracht worden, weil er nach offizieller Darstellung einen "Mini-Schlaganfall" erlitten hatte.
Erst im Juli kehrte er zurück. Berichte und Spekulationen über seinen Gesundheitszustand waren mit harter Hand unterbunden worden. Doch die Frage, wie es nun weitergeht in dem Land, in dem trotz der Umbrüche in der Region weitgehend Stillstand herrscht, wird immer wieder gestellt. Die Krankheit des Präsidenten paralysiere das Land, hieß es am Wochenende in einem Zeitungskommentar. Nicht nur die kritische Presse ist ungeduldig.
"Wahrscheinlich weiß er selbst nicht, was er vorhat"
"Sie sind zurzeit sehr, sehr nervös", sagt Adlène Meddi, Chefredakteur der Wochenendausgabe von "El Watan". Er meint die Mächtigen des Landes, die unter dem Wort "Le pouvoir" (die Macht) zusammengefasst werden. Weder ist klar, ob Bouteflika nicht nur alters-, sondern auch amtsmüde ist; es wird nicht ausgeschlossen, dass sich der Staatschef dafür entscheidet, noch einmal anzutreten, oder seine Amtszeit durch eine Verfassungsänderung verlängert. Noch immer wird gerätselt, wer Bouteflika nachfolgen könnte, sollte es tatsächlich einen neuen Kandidaten brauchen.
"Wahrscheinlich weiß er selbst nicht, was er vorhat", witzeln algerische Journalisten. Von "Theater", gar einer "Komödie" sprechen sie, wenn es um die auffällig kurzen Auftritte des Präsidenten im Staatsfernsehen geht. Sie können oft nur darüber spekulieren, was innerhalb des opaken Netzes an der Spitze des Staates ausgeheckt wird.
Da wären der Präsident und sein Clan, der Geheimdienst DRS, die Armee, die Administration, die Präsidentenpartei Front de Libération Nationale (FLN), mächtige Familien und Wirtschaftsgrößen. Alle Akteure haben ihre eigenen Interessen, die es zu berücksichtigen gilt. Schon lange herrscht in der Führung Unmut über die "Analphabètes" im Apparat, also jene, die ihre Posten lediglich guten Verbindungen verdanken. Auch soll es in der Armee Frust unter jungen Offizieren, die im Ausland studiert haben, geben, die sich ausgeschlossen fühlen, weil noch immer die alte und gestrige Garde die wichtigen Entscheidungen fälle.
Untätig sind der Präsident und seine Seilschaft natürlich nicht, wenn es darum geht, die nähere Zukunft in ihrem Sinne zu regeln. Mitte September bildete Bouteflika das Kabinett radikal um. Er besetzte Schlüsselressorts wie das Innen-, das Justiz- und das Außenministerium mit Vertrauensleuten und entfernte interne Widersacher. Mit General Ahmad Gaïd Salah wurde ein Mann als stellvertretender Verteidigungsminister in der Militärführung installiert, der in Algier als "zu vierhundert Prozent loyal" gegenüber dem Präsidenten gilt.
Salah war einer der wenigen, mit denen der Präsident während seiner Behandlungszeit in Frankreich sprach. Auch dass im selben Monat General Bachir Tartag, der westlichen Geheimdiensten als "Eisenfresser" gilt, von der Spitze des – unter anderem für den Kampf gegen Al Qaida verantwortlichen – Innengeheimdienstes DSI entfernt wurde, wird als Versuch gewertet, die Kontrolle der Präsidentenseilschaft über den Staatsapparat auszuweiten. Sein von Paris nach Algier zurückberufener Nachfolger sei näher am Präsidenten, sagt Meddi.
Angst vor Dschihadisten überschattet den Freiheitsgedanken
Dem überaus mächtigen Sicherheitschef Mohamed Lamine Mediène, genannt "Taufik", dürfte das nicht besonders gefallen haben. Dessen Schwächung dürften die Bouteflikisten allerdings nicht zu energisch betreiben, sagt Meddi. Einen internen Krieg könne sich das Regime nicht leisten, es werde wohl ein "Gentlemen’s Agreement" geben. Taufik werde im Falle eines Falles auch bei der Auswahl eines Kompromisskandidaten für die Bouteflika-Nachfolge ein Wort mitreden. Viel wurde über Bouteflikas Bruder Saïd spekuliert. Er soll großen Einfluss auf den Präsidenten haben und bei den machtpolitischen Umbauarbeiten im Apparat eine wichtige Rolle gespielt haben. Aber Saïd sei als Nachfolger nicht vermittelbar, sagt Meddi. "Er hat keine Chance." Nach den Umstürzen in Tunesien, Ägypten und Libyen sei die Zeit der Republiken mit Erbfolge vorüber.
Das algerische Regime haben diese Umbrüche nicht erschüttert. Die Sorgen angesichts der Sicherheitsprobleme und Machtvakuen, welche die Revolten in der Region hervorgebracht haben, scheinen zu überwiegen. Die Angst vor den Dschihadisten im Grenzgebiet sowie den schwachen, untätigen neuen Regierungen in Tunis und Tripolis strahlt offenbar stärker aus als die Botschaft von der neuen Freiheit.
Die algerische Erfahrung im "schwarzen Jahrzehnt" stützt die Erzählung des Regimes, nach der die Arabellion vor allem Chaos gebracht habe, das es zu vermeiden gelte. Die Erinnerung an die Jahre des blutigen Bürgerkriegs der neunziger Jahre ist also noch zu präsent. Die Zivilgesellschaft ist erschöpft. Ende Mai, als nicht einmal klar war, ob Bouteflika als Präsident von seiner Behandlung aus Frankreich zurückkommen würde, hatte der algerische Schriftsteller Boualem Sansal in einem Beitrag für die französische Tageszeitung "Le Monde" gestanden, er langweile sich zu Tode, wenn er die algerische Politik betrachte. Da gebe es nichts, was die verdrossene Jugend in Schwingung versetzen könnte.
Unter den Mächtigen, sagt Chefredakteur Adlène Meddi, gebe es derzeit keinen Willen zu echter Öffnung und Veränderung. Sie hörten nicht einmal wirklich zu. Dabei gäre es weiter, seien die sozioökonomischen Probleme wie die hohe Jugendarbeitslosigkeit oder die Wohnungsnot weiter ungelöst. Die Führung, die wegen der Gaseinnahmen in tiefe Taschen greifen kann, erkaufe sich den sozialen Frieden mit Zuwendungen und gehe schon an ihre Reserven. "Und das ist sehr kurzsichtig."
Christoph Erhardt
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de