Inmitten politischer Turbulenzen
Laute Protestrufe hallen durch den Kinosaal Couliseé im Zentrum von Tunis. Draußen vor dem Kino steht ein großes Polizeiaufgebot, die Stimmung ist aufgeladen. Zweitausend Menschen stehen auf und singen die Nationalhymne. Tunesische Fahnen werden auf der Bühne vor der Leinwand geschwenkt.
Die Künstler- und Aktivistengemeinde von Tunis ist am 23. September zur Eröffnung des Filmfestival "Human Screen" (Internationales Filmfestival der Menschenrechte) gekommen und sie nutzt das Kultur-Event, um ihren Ärger über die Verhaftungen von jungen Künstlern in der Nacht zuvor zu zeigen. Sie protestieren gegen das islamistisch dominierte Regierungsbündnis, das zulässt, dass immer wieder kritische Künstler hinter Gitter kommen. Den Islamisten geben auch viele Oppositionelle eine Mitschuld an den beiden politischen Morden an den linken Politikern Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi im Februar und Juli 2013.
Der Hauptfilm des Abends ist ein Portrait des gestandenen tunesischen Filmemachers Habib Mestiri über einen dieser beiden Oppositionspolitiker: Chokri Belaïd, Märtyrer der Nation, ermordet am 6. Februar 2013 vor seinem Haus in Tunis.
Die Aufarbeitung des Mordes kommt nur schleppend voran. Die Familie Belaïd hat angedeutet, dass sie die Verstrickung der Übergangsregierung in den Mord für sehr wahrscheinlich hält. In diesem aufgeheizten politischen Klima kommt Mestiris biographischer Film "Heureux le Martyr" etwas harmlos daher. Die tunesischen Aktivistenkreise im Kinosaal hatten etwas Kämpferisches erwartet.
Biographischer Fernsehfilm
Habib Mestiri hat keinen explizit politischen Film über Belaïd drehen wollen. "Heureux le Martyr" ist im Stil eines biographischen Fernsehfilms gedreht. Mestiri erzählt in langsamen Einstellungen, an wenigen ausgewählten Schauplätzen. Der Filmemacher lässt Belaïds Familie, seine Jugendfreunde, seine Mitstreiter und auch politische Gegner zu Wort kommen.
Die vielen Aussagen sollen zeigen, dass sein Zugang zur Politik in einer zutiefst humanistischen Grundhaltung begründet war. Man sieht Belaïd als Vater, wie er mit seinen Kindern malt, wie er sie umsorgt, ihnen im Kleinkindalter das Essen einlöffelt. Foto- und Archiv-Filmmaterial führen zurück bis in Chokri Belaïds Kindheit. Chokri in der Schule, unter Freunden, an der Universität von Paris, wo er Recht studiert hat und wo er seine Frau Besma kennengelernt hat, Hochzeitbilder.
Mestiris Film ist der Versuch, eine politische Figur von außergewöhnlichem Format für die Nachwelt zu bewahren, auch für Außenstehende, nicht nur für Beteiligte. Viele Mitstreiter sprechen von Beläïd mit großer Ernsthaftigkeit aber auch mit einem Lächeln. Künstler aus seinem Umfeld treten auf. Die Erinnerungen seiner Frau Besma und seines Bruder Abdelmajid durchziehen den Film wie ein roter Faden.
Eine Momentaufnahme
Habib Mestiri hat diesen Film innerhalb von sechs Monaten nach der Ermordung Belaïds fertig gestellt. Das gibt dem Film als Zeitdokument eine Relevanz. Die Unmittelbarkeit der Aussagen ist spürbar, die öffentliche Erschütterung und Wut, die private Trauer, das Begräbnis, das über eine Million Menschen (fast ein Zehntel von Tunesiens Bevölkerung) in eine Manifestation für ein demokratisches Tunesien umgewandelt haben.
Mestiri geht aber damit auch ein Risiko ein, die Relevanz einer politischen Führungsfigur zeigt sich oft erst aus der Distanz. Der Regisseur umschifft das aber ganz einfach. Der Film leidet daran, dass der Filmemacher Mestiri als Autor praktisch abwesend ist. Er beschränkt sich mehr oder weniger auf das Zusammentragen der biographischen Informationen, der Zeitzeugen.
Der Film überzeugt auch dramaturgisch nicht wirklich, da er noch zu langfädig ausgefallen ist. Dies hat auch der Regisseur gemerkt. Die am Festival gezeigte Fassung von über neunzig Minuten wird nach Mestiris Aussagen noch einige Kürzungen über sich ergehen lassen – bis zur endgültigen Version.
Ein Aktivist mit Kamera
Youssef Ben Ammar kommt mit dem iPad unterm Arm zum Treffen ins Grand Café du Théatre in Tunis. Der junge Filmemacher zeigt seinen Dokumentarfilm "Au Temps de la Révolte" vorab. Der halbstündige Film entstand für einen Wettbewerb des Goethe-Instituts und des Institut Français Tunis zum Thema "Versöhnung" und war am 4. Oktober unter den beiden Gewinnerfilmen.
Er erzählt in drei Teilen von der tunesischen Revolution. Mit den beiden politischen Morden an Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi wählt auch Youssef Ben Ammar Schlüsselmomente der aktuellen politischen Ereignisse Tunesiens aus. Er macht die Töchter der beiden Politiker zu Hauptfiguren und mischt sie mit Szenen der Menschen, die am Tag der Ermordungen spontan auf die Straße gingen.
Das Bildmaterial hat Ben Ammar selbst mit einer Handkamera aufgenommen. Er war an beiden Tagen (am 6. Februar und am 25. Juli) in Tunis unterwegs und hat praktisch pausenlos gedreht. Der Filmer Ben Ammar ist ein Teil seiner Zeitgeschichte und nimmt explizit Stellung gegen die politischen Morde. Ein Aktivist mit Kamera.
Trister postrevolutionärer Alltag
Zwischen die politischen Ereignisse stellt er Ausschnitte aus dem Alltag nach der Revolution: Die leeren Tram-Bahnen am Abend, die früher immer überfüllt waren; arbeitlose Jugendliche in Cafés; Kinder, die das Trinkwasser noch mit Eseln holen müssen. Ben Ammar erzählt mit Bildern, er steuert sie gekonnt zwischen Spannung und Entspannung.
In den ersten beiden Teilen wird kaum gesprochen, die Szenen sind schnell geschnitten. Die beiden Mädchen von Chokri Belaïd sind noch im Schulalter. Youssef Ben Ammar zeigt sie in ihren Kinderzimmern eingebettet zwischen Stofftieren, wie sie sich am Computer Videos der Demonstrationen für ihren Vater anschauen.
Die Töchter von Mohamed Brahmi sind schon älter. Mit ihrem Auftritt ändert Youssef Ben Ammar seine Erzählweise, sie wird intimer, statischer. Die 18-jährige Tochter erzählt Tränen überströmt wie sie ihren von Schüssen getroffenen Vater zusammen mit ihrem Bruder aus dem Auto ziehen will. Versöhnung? Nein, Versöhnung gibt es für sie nicht.
Versöhnung sieht anders aus
Es ist eine halbe Stunde Film, die den Zuschauer zum unmittelbar Beteiligten macht. Man steckt mitten drin in den politischen Turbulenzen Tunesiens und die Zukunft dieser der Kinder berührt unweigerlich den Zuschauer. Wie sehr werden die Ermordungen ihrer Väter ihr weiteres Leben bestimmen?
"Au Temps de la Révolte" gibt darauf keine Antwort. Er zeigt aber, was sich Menschen in diesem Land antun. Sie kämpfen mit allen Mitteln und vollkommen rücksichtslos um die politische Macht. Das Leben der meisten Menschen verbessert sich dadurch kaum. Im Gegenteil. Angst greift in Tunesien wieder um sich. Versöhnung sieht anders aus.
Youssef Ben Ammar ist noch Filmstudent – es ist erst sein zweiter kurzer Dokumentarfilm, der allerdings schon eine gereifte Filmsprache zeigt. Er verknüpft geschickt Erzählebenen miteinander, und hat ein Händchen für dramaturgisch spannende Abläufe. Auf seine weiteren Werke im gesellschaftspolitischen Autorenfilm darf man gespannt sein. Zuerst wird aber "Au Temps de la Révolte" dank des Wettbewerbs auch in Europa zu sehen sein.
Christina Omlin
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de