Zwischen Schockstarre und Wut
Männer und Frauen, alte Menschen und Schüler liegen sich weinend in den Armen. Sie können noch nicht fassen, was passiert ist. Rund tausend Menschen versammelten sich noch am Mittwochvormittag (06.02.2013) vor dem Krankenhaus, in das der Leichnam Chokri Belaids eingeliefert wurde. Der linke Oppositionspolitiker war am frühen Morgen vor seinem Haus erschossen worden.
Der noch unbekannte Täter hatte ihn mit fünf Schüssen in Kopf und Brust regelrecht hingerichtet. Die Menschen sind schockiert und wütend, verzweifelt machen sie ihrem Ärger Luft. "Wir sind doch alle Tunesier. Rechts oder links, das ist doch egal. Aber Tunesien ist doch nicht so, es kann doch nicht sein, dass so etwas in unserem Land passiert", schreit eine Demonstrantin mit tränenerstickter Stimme. Es ist das erste Mal seit den 50er Jahren, dass in Tunesien ein Politiker erschossen wurde.
Noch am Abend vor seinem Tod warnte Belaid in einer Talkshow im tunesischen Fernsehen vor politischen Morden. Er selbst hatte mehrfach Drohungen erhalten. Viele Oppositionspolitiker und Vertreter der Zivilgesellschaft sind vor das Krankenhaus gekommen, aber auch Schüler und Studenten.
Ein Angriff auf die Revolution
Iyed Dahmani, Abgeordneter der Mitte-Links-Partei Al-Joumhouri, macht indirekt die Regierungskoalition unter der Führung der islamistischen Partei Ennahda für den Mord verantwortlich und spricht von einem Attentat auf die Revolution. "Verantwortlich sind diejenigen, die monatelang die politische Gewalt ignoriert haben. Jedes Mal, wenn wir davor gewarnt haben, haben sie gesagt, das sind unsere Kinder, wir müssen mit ihnen in Dialog treten. Heute sehen wir, dass uns dieser Dialog mit den Islamisten und den Extremisten zu politischen Morden führt."
Vom Krankenhaus setzt sich ein Trauerzug in die Innenstadt in Bewegung, am Nachmittag versammeln sich mehrere tausend Menschen vor dem Innenministerium in Tunis. "Brot und Wasser, aber Ennahda nein", rufen sie in Anlehnung an die Slogans der Revolution vor zwei Jahren. Sie fordern den Rücktritt der Regierung und rufen zum Generalstreik auf. Schuld am Mord sind die Islamisten, da sind sich die Demonstranten einig.
Unter ihnen ist auch Mohamed, der bei den Wahlen im Oktober 2011 für Ennahda gestimmt hatte. "Wir haben sie gewählt, weil wir dachten, dass sie gottesfürchtig sind. Doch die Religion haben sie schnell vergessen, stattdessen interessieren sie sich nur für ihre Posten. Gott schütze unser Land", sagt er.
"Ein Mann des Volkes"
Chokri Belaid war einer der schärfsten Kritiker der Regierungskoalition unter Führung von Ennahda. Unermütlich warnte der überzeugte Kommunist, der in einem Armenviertel der Hauptstadt aufgewachsen war, vor den Gefahren einer neuen Diktatur. Zusammen mit anderen Oppositionsparteien gründete der 48-Jährige im vergangenen Jahr die linke Parteienvereinigung Front Populaire, die laut Umfragen drittstärkste politische Kraft Tunesiens.
Der Universitätsprofessor Mohammed Souissi kannte Belaid seit Studientagen. Gefasst versucht er zu verstehen, was passiert ist. "Ennahda und die Salafisten haben ihn gezielt ausgesucht, sie haben es auf seine Gedanken angelegt."
Belaid sei ein Mann des Volkes gewesen, ein mutiger Politiker, der ihnen Angst gemacht habe. "Belaid ist jemand, der zum Denken anregte, und das braucht Tunesien. Jetzt wacht das Land auf." Souissi hofft, dass der Mord an Belaid die tunesische Gesellschaft trotz aller politischen Differenzen vereinen wird und dass die demokratischen Kräfte gemeinsam für einen demokratischen Staat kämpfen werden.
Neuwahlen angekündigt
Am Mittwochnachmittag löste die Polizei die weitgehend friedliche Demonstrationen vor dem Innenministerium gewalttätig auf. Mit Schlagstöcken und Tränengas gingen die Beamten gegen die Trauernden vor, bis zum Abend kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen in der Innenstadt von Tunis. Auch in anderen Landesteilen gab es Demonstrationen, in mehreren Städten wurden die Büros von Ennahda angegriffen.
Am Abend gab Ministerpräsident Hamadi Jebali bekannt, dass er die Regierung aufgelöst hat. Er kündigte die Bildung einer Regierung parteiloser Experten und baldige Neuwahlen an.
Sarah Mersch
© Deutsche Welle 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de