Alles oder nichts
Mit dem Tod des ehemaligen Diktators Muammar al-Gaddafi ging auch das Ende eines Ein-Mann-Regimes in Libyen einher, und mit ihm verschwanden seine Armee (die sogenannten Sicherheitsbrigaden), sein Polizeiapparat und weitere fragile staatliche Institutionen.
Wenn man dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama folgt, so war die damalige militärische Intervention in Form einer Luftoffensive im Jahr 2011 die richtige Entscheidung. Auf der anderen Seite bezeichnete er später die mangelnde Planung für die Übergangsphase nach dem Sturz Gaddafis als den größten Fehler seiner Amtszeit.
So wenig überraschend die Beobachtung Obamas ist, so zutreffend ist sie: Libyen ist in ein verheerendes Chaos gestürzt - mit tiefgreifenden Folgen. Das Abschlusspapier der jüngsten Berliner Libyen-Konferenz beschreibt die daraus erwachsenen Zusammenhänge folgendermaßen:
"Die Instabilität im Lande, die Einmischungen von außen, die institutionellen Spaltungen, die unkontrollierte Verbreitung einer Vielzahl von Waffen und ein räuberisches Wirtschaftsgebaren bedrohen weiterhin den Weltfrieden und die internationale Sicherheit, indem sie illegal operierenden Banden, bewaffneten Gruppierungen und terroristischen Organisationen einen fruchtbaren Boden bieten. Hierdurch konnten Al-Qaida und der sogenannte 'Islamischen Staat' auf libyschem Territorium Fuß fassen sowie dort und in Nachbarländern eine Reihe von Operationen durchführen. Dies hat zu einer destabilisierenden Zunahme illegaler Migration in der Region und zu einer gravierenden Verschlechterung der humanitären Lage geführt. Wir verpflichten uns daher, Libyen dabei zu unterstützen, diese strukturellen Probleme im Regierungs- und Sicherheitssektor anzugehen".
Konfliktlinie zwischen Ost-und Westlibyen
Bezugnehmend auf ebenjene Unterstützung schlägt das Papier eine dreigleisige Strategie für eine friedliche Lösung der Libyen-Krise vor, denn eine militärische Lösung wird ausgeschlossen.
Diese dreigleisige Strategie umfasst zum einen Maßnahmen auf militärischer Ebene, darunter einen dauerhaften Waffenstillstand, die Unterlassung externer Einmischung, die internationale Beobachtung und Verfolgung von Verstößen gegen das Waffenembargo, die Demobilisierung und Auflösung bewaffneter Gruppierungen sowie die anschließende Eingliederung geeigneten Personals in sicherheitsbezogene und militärische Institutionen des Staates und, damit verbunden, die Schaffung eines einheitlichen Militär- und Sicherheitsapparats.
Auf politischer Ebene sieht das Papier die Rückkehr zum politischen Prozess vor. So soll ein 40-köpfiges Forum entstehen, das zu gleichen Teilen Vertreter der Organe der verfeindeten politischen Lager bilden. Die Konfliktlinie dieser Lager verläuft entlang der Spaltung des Landes in Ost- und West und den damit verbundenen Führungsansprüchen.
Darüber hinaus sollen auch unabhängige und führende Persönlichkeiten an diesem Forum teilnehmen. Es ist eine Versammlung des Forums in Genf vorgesehen, um einen aktiven politischen Dialog in Gang zu setzen, bei dem die konkreten Rahmenbedingungen für eine politische Lösung geschaffen werden sollen, wie sie auch das Abschlusspapier der Berliner Libyen-Konferenz fordert.
Es soll an dieser Stelle auch darum gehen, einen funktionsfähigen Präsidialrat einzurichten sowie eine repräsentative, geeinte, alle Seiten einbeziehende und handlungsfähige libysche Regierung zu bilden, welche die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unter internationaler Aufsicht organisieren und durchführen.
Wiederherstellung von Integrität und Einheit
Die dritte Ebene der vorgeschlagenen Strategie widmet sich wirtschaftlichen Aspekten, darunter der Wiederherstellung von Integrität und Einheit souveräner wirtschaftlicher Institutionen, die aktuell zwischen den Behörden in Tripolis und Bengasi aufgespalten sind. Darunter zählen beispielsweise die Zentralbank Libyens ("Central Bank of Libya"), die Nationale Erdölgesellschaft ("National Oil Corporation"), der libysche Staatsfonds ("Libya Investment Authority") und der Rechnungshof ("Audit Bureau").
Die Auswirkungen der libyschen Krise sind für mich persönlich in vielerlei Hinsicht spürbar. Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Berliner Abschlusspapier mit seiner dreigleisigen Strategie - wohlwollend ausgedrückt - zwar gute Absichten verfolgt, die Lage allerdings in der illusorischen Annahme verkennt, dass eine friedliche Lösung für Libyen der einzige Weg ist, um die Krise im Land zu beenden.
Dies widerspricht der tatsächlichen libyschen Realität. Die inzwischen fast sechs Jahre andauernden bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Bündnis islamischer und regional ansässiger, tribaler Milizen, die auf der einen Seite Tripolis kontrollieren und den unter der Führung von General Haftar vereinten Streitkräfte auf der anderen Seite gewinnen stetig an Komplexität und sind mittlerweile zu einem verheerenden Krieg in den Außenbezirken von Tripolis angewachsen.
Wer Tripolis kontrolliert, kontrolliert Libyen
Die Streitkräfte der "Libysch-Nationalen Armee" unter General Haftar kontrollieren regional etwa 90 Prozent des Landes (d.h. den gesamten Osten wie Süden und einen erheblichen Teil des Westens) sowie Ölquellen und dazugehörige Exporthäfen, die Milizen der international anerkannten Einheitsregierung unter der Präsidentschaft von Fayez al-Sarraj wiederum die Hauptstadt Tripolis und einige bedeutende westliche Küstenstädte wie Misrata und Al-Zawiya.
Letztendlich läuft alles auf die Frage hinaus, wer am Ende Tripolis, die Hauptstadt und damit das "Objekt der Begierde" der Kriegsparteien kontrollieren wird. Wer Tripolis kontrolliert, kontrolliert Libyen.
Dies galt bereits, als Tripolis ab 1523 n. Chr. den Kreuzrittern des Johanniterordens unterstand, von denen der Priester Gaspare de Sangiiessa zum Stadtherren ernannt wurde. Sie hielten die Stadt fast drei Jahrzehnte lang besetzt, bis sie diese 1551 an die Osmanen abtreten mussten, nachdem die Stadtbewohner sie um Hilfe ersucht hatten. Die Osmanen regierten Libyen daraufhin für einen Zeitraum von 360 Jahren. 1911 trat das Osmanische Reich Libyen im Zuge des Vertrags von Lausanne an die Kolonialmacht Italien ab. Dies hatte den Abzug aller osmanischen Soldaten, Offiziere und Beamten der Hohen Pforte aus Tripolis und aus der Cyrenaika zur Folge.
"Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce". Diese Prognose von Karl Marx erfüllt sich derzeit in Libyen einmal mehr auf groteske Weise: Die Regierung in Tripolis hat Erdoğan, den in neo-osmanischer Nostalgie schwelgenden Präsidenten der säkularen und kemalistischen Republik Türkei, um Unterstützung angerufen. Das ließ sich Erdoğan nicht zweimal sagen und schritt sogleich zur Tat. Er schickte Militärberater, hochwertige militärische Ausrüstung sowie Söldner der syrischen Oppositionskämpfer, die ethnisch Turkmenen (also türkischen Ursprungs) sind.
Aus Erdoğans wiederholten Aussagen lässt sich ableiten, dass das politische Ziel hinter der unmittelbaren türkischen Militärpräsenz im Herzen Tripolis nicht nur darin besteht, die islamisch-orientierte Regierung unter dem Verweis, dass diese internationale Legitimität besitzt, zu unterstützen. Zweifellos geht es der Türkei nicht um eine friedliche Lösung des Konflikts – denn durch ihre militärische Intervention wurde die Krise auf politischer und militärischer Ebene weiter verschärft.
Erdoğan hat die Anhänger seiner Partei (die im Übrigen in einem Bündnis mit der faschistischen Partei "Milliyetçi Hareket Partisi" / "Partei der Nationalistischen Bewegung" steht) in populistischer Manier bezirzt, in dem er den wachsenden überregionalen Einfluss der Türkei im Zuge der Unterzeichnung des Abkommens über die Festlegung der Seegrenzen mit der Verwaltung in Tripolis hervorhob.
Ein Minimodell der syrischen Katastrophe
Die Türkei verfügt nun augenscheinlich über eine erweiterte Front im Mittelmeerraum und kann somit der Allianz von Israel, Ägypten, Griechenland und Zypern, die zusammen das "Gas-Forum östliches Mittelmeer" bilden, entgegentreten.
Die türkische und russische Intervention in Libyen wird das bereits bestehende Chaos weiter verschärfen - ganz nach syrischem Vorbild. Die libysche Situation stellt sich aktuell als eine Art Minimodell der Katastrophe in Syrien dar.
Des Weiteren spielte Recep Tayyip Erdoğan auf die Vorteile der türkischen Intervention an, die auch mit den Bedarfen türkischer Bauunternehmer einhergeht. Diese verfügten in der Zeit vor der Revolution des 17. Februar im Jahr 2011 über Projekte in Libyen im Wert von 28,9 Milliarden US-Dollar.
Erdoğan ging sogar so weit, sich abgenutzten Mustern kolonialer Rechtfertigungen zu bedienen, als er bei der Einweihungsfeier des ersten in der Türkei hergestellten U-Boot-Tests erklärte: "Unser Landesvater Kemal Atatürk hat als Offizier bei der osmanischen Armee gegen die italienische Besatzung in Libyen gekämpft. Daher müssen auch wir heute hier vor Ort präsent sein und kämpfen. In Libyen leben aktuell nicht weniger als eine Million Menschen mit türkischen Wurzeln."
Es liegt auf der Hand, dass die türkische und russische Intervention in Libyen das bereits bestehende Chaos weiter verschärfen wird - ganz nach syrischem Vorbild. Die libysche Situation stellt sich aktuell als eine Art Minimodell der Katastrophe in Syrien dar.
Ein Krieg, der keine Kompromisse kennt
Den islamistischen Milizen und ihren türkischen Verbündeten steht General Haftar gegenüber, offiziell militärisch unterstützt von Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, indirekt auch von Frankreich und Russland. Haftar mobilisiert seine Truppen, die bereits bis weit in die Vororte am Rande der Hauptstadt vorgedrungen sind, für die Einnahme Tripolis und den Sturz der islamistisch-orientierten Regierung.
Es geht um alles oder nichts: Khalifa Haftar wird sich mit nichts weniger als der vollständigen Kontrolle über die Hauptstadt zufriedengeben. Gelingt ihm dies nicht, muss er sich trotz militärischer Überlegenheit aus Tripolis zurückziehen. Letzteres Szenario wäre allerdings nur bei einer Intervention der in Personal und Ausrüstung gut aufgestellten türkischen Armee denkbar.
Aus taktischen Gründen hält sich General Haftar derzeit an Waffenruhen, Waffenstillstände und Initiativen zur politischen Beilegung des Konflikts, um für mögliche Verstöße nicht international zur Verantwortung gezogen zu werden.
Schlussendlich gilt es festzuhalten: Es gibt keine politische Lösung, die dem in den südlichen Außenbezirken von Tripolis wütendem Krieg, ein baldiges Ende setzen könnte.
Dieser Krieg kann nicht nur auf politische Differenzen reduziert werden, die sich durch eine Neuverteilung der Machtpositionen nach dem Grundsatz "Ohne Sieger keine Besiegten" lösen ließen. Es ist vielmehr ein Krieg, der keine Kompromisse kennt und klar der Logik folgt: Sieg oder Niederlage.
Faraj Alasha
© Qantara.de 2020
Faraj Alasha ist ein libyscher Autor und politischer Analyst. Sein letzter Roman "Synesios und Hepatia" erschien 2019 im arabischen Verlag "Dar Altanweer".
Übersetzt aus dem Arabischen von Rowena Richter