Ungeschminkter Autoritarismus
Autoritäre Herrschaft muss nicht notwendigerweise gesetzlich verankert sein: Das Einparteiensystem und die ganz offiziell in die Verfassung eingeschriebene Willkürherrschaft verschwinden schon seit längerem schrittweise von der Bildfläche. Genauso wenig ist autoritäre Herrschaft lediglich ein System der Unterdrückung und Repression, das sich auf die Verängstigung der breiten Bevölkerung und alltägliche Einschüchterung stützt.
Vielmehr gründet jede autoritäre Herrschaft zumindest in Teilen auch auf dem Versprechen, im Gegenzug für beschnittene Rechte für ein Gefühl der Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Insofern basiert autoritäre Herrschaft nicht bloß auf einem durch die Propagandamaschinerie verbreiteten Geflecht aus Lügen, das die Realität übertünchen soll. Denn schenken die Menschen derartigen Propagandafiktionen nur lange genug Glauben, werden sie für sie zu einer neuen Realität, die dann den Rahmen für ihre Erwartungen an die Regierung und ihr Handeln bildet.
Wechselspiel von Angst und Sicherheitsgefühl
Autoritäre Herrschaft spiegelt sich daher eher im Spannungsverhältnis von Gegensätzen verschiedener Art wieder: dem Dualismus von Legalität und Informalität, dem Wechselspiel von Angst und Sicherheitsgefühl, aber auch in der Diskrepanz zwischen dem, was die Regierung sagt und ihrem tatsächlichen Handeln. Autoritäre Herrschaft findet ihren Ausdruck zudem im Zusammenspiel zwischen dem, was öffentlich stattfindet und dem, was hinter verschlossenen Türen verhandelt wird, auch wenn trotzdem alle wissen, was dort vor sich geht.
Die Grauzone zwischen den genannten Gegensätzen und die gewollte Unberechenbarkeit, in der der Staatsapparat und seine Repräsentanten selektiv das Gesetz anwenden und formal vorhandene Rechte auch in der Praxis gewähren, bilden den Kern des autoritären Herrschaftssystems und halten es effektiv und langfristig am Laufen.
Die Beherrschten gehen derweil in diesem undurchschaubar strukturierten Zwischenraum unter, während sie versuchen im Blindflug zwischen den Polen zu manövrieren, in der Hoffnung auf beiden Seiten herauszuholen, was herauszuholen ist, und sei es durch Zufall. Die Mutigsten unter ihnen möchten die Kluft zwischen den Rändern dieser Grauzone verringern. Sie versuchen, die Regierung dazu zu bringen, nur zu sagen, was sie auch tatsächlich beabsichtigt umzusetzen und öffentlich zu verhandeln, was sich bisher im Verborgenen vollzog, so dass letztlich beides übereinstimmt.
Mubaraks Spiel der Herrschaftssicherung
Dank drei Jahrzenten Erfahrung beherrschte das Regime Hosni Mubaraks dieses Spiel der Herrschaftssicherung – und es gelang ihm, alle Teile der Gesellschaft in dieses System hineinzuziehen. Jede Aktivität, jeder Diskurs und jede Institution wanderte immer auf dem schmalen Grat zwischen Legalität und Informalität.
Die in der Ära Mubaraks aktiven zivilgesellschaftlichen Organisationen sind ein gutes Beispiel für die paradoxe Wirkung des Zusammenspiels dieser Pole: Ihre rechtliche Agenda zwang sie dazu, sich auf das Rechtssystem, die Verfassung und den Diskurs des Regimes zu stützen, um es dazu zu bringen, die Kluft zwischen eben diesen und ihrer Umsetzung zu verringern. Das Regime seinerseits hielt die zivilgesellschaftlichen Organisationen unnachgiebig in der Schwebe zwischen Legalität und Informalität. So arbeiteten die meisten Menschenrechtsorganisationen in der Ära Mubaraks zwar im Prinzip auf gesetzlicher Grundlage, ihr rechtlicher Status wurde aber absichtlich im Unklaren belassen.
Die Ausdehnung der Grenzbereiche zwischen Legalität und Informalität mit all ihren teils widersprüchlichen Facetten und multiplen Zentren verlieh dem autoritären Regime Mubaraks eine Flexibilität, die sein Fortbestehen sicherte, ohne dass es sich zu sehr auf physische Gewaltanwendung verlassen musste. Dennoch war die Ausdehnung dieser Grauzone nicht nur ein Segen, denn zwischen der stetigen Ausweitung der Grenzbereiche auf der einen und der Notwendigkeit sie einzudämmen auf der anderen Seite, verlor das Regime in den letzten Jahren seiner Herrschaft zusehends die Kontrolle über sie.
"Rohe Gewalt" statt Legalität und Informalität
Das Regime Abdel Fattah al-Sisis hat von Anfang an verstanden, dass die Flexibilität des Mubarak-Regimes sich gegen ihn gewandt hatte und konsequent seine Lehren aus dessen spektakulärem Sturz gezogen. Angesichts der auf unabsehbare Zeit schlechten Wirtschaftslage macht Al-Sisi keine Anstalten, eine bessere Zukunft zu versprechen und greift auch nicht auf Lügen zurück: Es stimmt, wenn er sagt, dass das ägyptische Bildungs- und Gesundheitssystem in Scherben liegen.
Die Regimemedien setzen sich nicht für die Umsetzung von Menschenrechten und die Verankerung demokratischer Prinzipien ein. Warum auch, wenn die Lösung aller Probleme "rohe Gewalt" ist, wie der Präsident ein ums andere Mal wiederholt. Stattdessen überbieten sie sich gegenseitig in ihrem Bestreben Propaganda für die Willkürherrschaft des Regimes zu betreiben und versuchen erst gar nicht, diese schönzureden.
All das geschieht in völliger Offenheit: Während es sich in der Vergangenheit hinter den Kulissen abgespielt hätte, muss heute niemand mehr verheimlichen, dass die Geheimdienste verschiedene private Medien kaufen und steuern.
Das Regime verschleppt mögliche Präsidentschaftskandidaten in aller Öffentlichkeit und anschließend geben sie im Fernsehen ihren Rücktritt von der Kandidatur bekannt, als wäre nichts geschehen. Es lässt sogar den ehemaligen Leiter der größten Aufsichtsbehörde des Landes und Stellvertreter einer der Präsidentschaftskandidaten, Hisham Geneina, auf offener Straße überfallen und zusammenschlagen.
Bevor die Wahlen in Ägypten überhaupt begonnen haben, sind zwei der Kandidaten im Gefängnis und ein weiterer steht unter Hausarrest. Nun weist das Regime völlig unverhohlen und dreist eine Partei nach der anderen ganz offen an, einen Kandidaten für die Wahlen aufzustellen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, diese Vorgänge zu dementieren oder schönzufärben.
Inszeniertes Wahltheater
Stattdessen wird dem Regime in den Kommentarspalten der Zeitungen vorgeworfen, die Inszenierung der Wahl nicht rechtzeitig vorangetrieben zu haben. Denn niemand leugnet, dass es eine Inszenierung ist, lediglich die Ansprüche an die Aufführung wurden dabei scheinbar nicht ganz erfüllt. Nie zuvor wurde eine Wahl so offensichtlich und unverblümt vor den Augen aller inszeniert.
Und in der Tat hat das Regime keinerlei Interesse daran, die Wahlen in positivem Licht erscheinen zu lassen. Im Gegenteil, es zieht sie mit voller Absicht ins Lächerliche und verspottet und verunglimpft sie, wo es nur geht.
Das Regime lügt nicht, und es will nicht lügen: Jegliche Grauzonen sind verschwunden. Auch wenn es noch welche geben sollte, sind sie kaum der Rede wert. Manche versuchen sich damit Hoffnung zu machen, dass ein derart grobschlächtiges autoritäres Herrschaftssystem aufgrund seiner Trägheit und mangelnder Flexibilität zwangsweise kurzlebiger ist.
Das muss allerdings nicht zwangsläufig der Fall sein, denn ein offen autoritäres Regime kann genauso lange Bestand haben, wie ein flexibles, subtiler agierendes Regime – vielleicht sogar länger. Da aber seine Mittel begrenzt sind und sich letztlich in der Regel auf Repression beschränken, fordert es mehr Opfer und kommt die betroffene Gesellschaft ungleich teurer zu stehen.
Shady Lewis Botros
© Qantara.de 2018
Übersetzt aus dem Arabischen von Thomas Heyne
Shady Lewis Botros, Publizist und Psychologe, lebt in London und beschäftigt sich mit der Analyse der psychologischen Dimensionen politischer Diskurse in der arabischen Welt.