''Der Armee mangelt es an einer Zukunftsvision''

Die neuerlichen Proteste in Ägypten rücken die Armee und ihr gespaltenes Verhältnis zur Revolution vom 25. Januar ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein Gespräch mit dem Historiker Khaled Fahmy in Kairo.

Von Hani Darwish

Welche Rolle hat das ägyptische Militär seit der Juli-Revolution von 1952 in Staat und Gesellschaft gespielt und welche Folgen brachte der besondere Stellenwert der Armee bis heute mit sich?

Khaled Fahmy: Historisch gesehen zeichnete sich das ägyptische Militär einerseits durch die sogenannte Juli-Revolution mit ihrer zentralen Eigenschaft eines Putsches aus. Zum anderen verstand sie sich nie als Armee der Niederlage und des Niedergangs. Und nach dem Friedensschluss (mit Israel / Anmerkung der Redaktion) wurde sie schließlich zu Mubaraks Armee.

Diese drei Phasen konnten von den Historikern noch nicht umfassend beleuchtet werden, da das Archiv der ägyptischen Armee für Forschungszwecke nicht offen steht. Und über Einzelpersonen des Militärs zu sprechen, gilt nach wie vor als absolutes Tabu. Wir sind also gezwungen, auf das Informationsmaterial zurückzugreifen, was in Büchern und Zeitungsartikeln im Ausland erhältlich ist, um dieses Geheimnis ein wenig zu lüften.

​​Das Wichtigste, was die Revolution gebracht hat, ist wohl die Notwendigkeit, sich mit dieser Institution genauer zu beschäftigen, ist sie doch nach eigener Darstellung "Eigentum der Menschen". Im Wesentlichen besteht sie aus Rekruten, und die Gesellschaft, die das Militär mit ihrer Verteidigung betraute, hat das Recht, es zu überwachen und dessen Tätigkeit zu kontrollieren. Genau das erklärt aber, warum das Militär momentan versucht, sich diesem Einfluss zu entziehen.

Hat Sie das Verhalten der Armee im Verlauf der Revolution vom 25. Januar überrascht?

Fahmy: Das Militär wurde überrascht und sah sich gezwungen, Mubarak zu opfern. Letztlich war die plötzliche Wende und Unterstützung der Revolution taktisch klug gewählt: Die Armee opferte den politischen Flügel des Regimes zugunsten der Unversehrtheit des militärischen Flügels. Nachdem die Menschen auf dem Platz schon in den ersten Momenten die Losung "Volk und Armee gehen Hand in Hand" ausgegeben hatten, um sich selbst zu beruhigen und die Armee fest auf ihre Seite zu ziehen, beeilte sich das Militär, sich dieser Losung zu bemächtigen.

Die vergangenen drei Wochen haben das Militär allerdings wieder zurückgeworfen und quasi bei Null anfangen lassen. Das wirre Management der Übergangsphase (Verschleppung der Gerichtsverfahren, Verteidigung des Sicherheitsapparats, Abwürgen des Verfahrens gegen Mubarak) und die jüngste Drohrede eines seiner Kommandeure bestätigen, dass die Vernunft des Militärs auf dem Prüfstand steht.

Kann man von einem beginnenden Wandel der Armee nach dem Sturz Mubaraks sprechen oder handelt es sich vielmehr um eine Neuauflage bzw. Beibehaltung der alten Strukturen?

Fahmy: Mit dem Verhältnis zwischen der revolutionären Jugend und dem Militärrat steht es wegen der Vorwürfe der Jugend an die Armee, ihre Forderungen nur langsam umzusetzen, nicht zum Besten.

Demonstration von Anhängern der Revolution vom 25 Januar in Kairo; Foto: dpa
"Die Revolution zuerst!" - In Ägypten fordern die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz einen klaren Demokratisierungsprozess mit echten Reformen und werfen der Armee vor, die Macht an sich gerissen zu haben.

​​Wir können also schon von einer Fortsetzung der "privaten Mubarak-Ausgabe" sprechen, wie es ausländische Beobachter der ägyptischen Armee bereits seit Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre attestieren. Seit seiner Tätigkeit als Leiter der Fliegerschule war Mubarak für seine eiserne Disziplin bekannt. Als kleiner Militärbürokrat war er in der Lage, sein Umfeld zu kontrollieren, indem er selbst unbedeutende Fehler bestrafte und seine Untergebenen mit kleinen Bosheiten bedachte.

Doch glauben Sie, dass alle negativen Einflüsse in der Armee an der Person Mubarak festgemacht werden können?

Fahmy: Nein, gewiss nicht alle. Wenn wir uns beispielsweise vor Augen führen, dass die Vorteile der US-amerikanischen Militärhilfe für die ägyptische Armee größtenteils deren Oberkommandos zugute kommen, lässt sich das gesamte Ausmaß der internen Korruption erkennen. Wenn wir zudem noch das fortgeschrittene Alter von Mubarak, des Vorsitzenden des Obersten Militärrates, Mohammed Tantawi sowie zwei oder drei weiteren Personen über 70 Jahren hinzufügen, sehen wir, wie gewaltig die Generationslücke ist, die Mubarak mit seiner Politik, alle ägyptsichen Akteure der vergangenen Kriege aus der Armee zu drängen, hinterlassen hat. Das erklärt den Umstand, dass die jungen Kommandeure am 9. April zu den Demonstranten gingen, um der Revolution beizustehen.

Glauben Sie, dass diese strukturellen Gegensätze innerhalb des Militärs der Revolution entgegenkommen?

Fahmy: Ja, denn das derzeitige Durcheinander im Militärrat ist zum Teil seiner inneren Spaltung geschuldet. Ich möchte Ihnen eine kuriose Geschichte erzählen: Kürzlich traf ich einen Vertreter des alten Regimes. Er berichtete mir, wie sich Tantawi auf den Sitzungen von Mubaraks Ministerrat linken Vorstellungen zugeneigt zeigte. So widersetzte er sich z.B. den Maßnahmen zur Privatisierung der staatlichen Banken, ganz einfach weil diese Banken zur Tarnung finanzieller und wirtschaftlicher Aktivitäten der Armee dienen. Nach Aussage dieses Spitzenfunktionärs erfüllte es Tantawi mit Genugtuung, die Wirtschaftsliberalen ausbremsen zu können, und zwar nicht, weil der Staat seiner Überzeugung nach auf das Wirtschaftsleben Einfluss nehmen muss, sondern um die Interessen seines eigenen Apparats zu schützen, dessen Firmen weite Teile der ägyptischen Wirtschaft kontrollieren.

Mit derselben Logik widersetzen sich jetzt die Militärs dem Gedanken, dass ein Zivilist die Führung des Staates übernimmt. Sie können sich nicht vorstellen, dass Ägypten so wird wie etwa die USA, wo ein Zivilist als Politiker und Präsident den Verteidigungsminister entlassen kann oder die z.B. auch Presse die militärischen und fachlichen Fähigkeiten des Stabschefs erörtert. Das ist für sie ein rotes Tuch.

Glauben Sie nicht, dass der Geist der Revolution des 25. Januar in gewissem Maße auch vom Unmut über die Macht des Militärs getragen wird?

Fahmy: Sicher, denn die Armee lebte lange Zeit im Schutze ihrer Kasernen. Sie zehrte allein von ihrem konstitutiven, symbolischen Bonus. Die Wirklichkeit lässt diesen Bonus nun aber schrumpfen, denn nach der Revolution hat die Armee weder für ihre Gegner noch für ihre Anhänger Sicherheit geschaffen, eine weitreichende Entscheidung herbeigeführt oder Gerechtigkeit gebracht.

J​​e länger die Armee in den politischen Prozess eingebunden blieb, desto mehr wagten es die Leute auf der Straße, Losungen zu skandieren, die sich nicht einmal der kleinste Offizier in seinen Albträumen vorstellen konnte. Je länger sie auf den Straßen bleibt, desto mehr öffnet sich die Schere zwischen ihrem politischen Apparat und den Offizieren an der Basis, die mit den Menschen sympathisieren und sich darüber Gedanken machen, wie sehr sich ihr Leben von dem ihrer Generäle unterscheidet, insbesondere nachdem jetzt Korruptionsfälle in Höhe von Hunderten Milliarden aufgedeckt wurden.

Sehen Sie das Bündnis zwischen Armee und islamistischen Kräften als Ergebnis einer konservativ-traditionalistischen oder eher einer islamistischen Tendenz in der Armee, die seit den achtziger Jahren von der Hinwendung der ägyptischen Gesellschaft zur Religiosität beeinflusst wurde?

Fahmy: Meiner Meinung nach gibt es in der Armee einen Identitätskonflikt. Die Einen sehen im Kopftuch der Ehefrau Tantawis  eine Hinwendung zum Islam, die Anderen in seinem goldenen Ehering ein Abrücken vom Glauben. Über den Charakter der Religiosität in den Reihen der Armee liegen keine wirklichen Informationen vor. Allerdings kam das taktische Bündnis dadurch zustande, dass die Islamisten mit dem Bündnis lockten und es durch die Menschen auf der Straße ermöglicht wurde. Die Armee sah ind er Muslimbruderschaft einen Helfer im Kampf um die Volksabstimmung zur Verfassungsänderung. Das Problem besteht darin, dass einige Liberale und Nationalisten mit Dokumenten und Vorschlägen herumwedeln, denen zufolge der Armee in Zukunft eine Position eingeräumt werden soll, die jeder Kritik erhaben ist.

Derzeit wird viel über ein "Modell Erdogan" diskutiert. Die Präsidentschaftskandidaten Abdel Monem Abu el-Fatouh und Mohammad Salim al-Awa werben für die Idee eines ausgewogenen Machtverhältnisses zwischen Armee und islamistischen Kräften nach türkischem Muster. Wie sehen Sie das?

Fahmy: Ich habe von 1989 an einige Zeit in der Türkei gelebt, also zu der Zeit, als Necmettin Erbakans Projekt gerade anlief. Die Dinge dort liegen anders als in Ägypten. Die türkischen Islamisten haben sie aus dem Rahmen der islamischen Identität entfernt. Sie sind deshalb an die Macht gelangt, weil sie sich zuvor im sozio-ökonomischen Diskurs der Probleme der Mittelschicht annahmen. Die ägyptischen Islamisten dagegen sind auf die Frage der Identität fokussiert und erkennen nicht den historischen Kontext, der das türkische Modell zum Erfolg geführt hat.

Ich glaube nicht, dass die derzeitige politische Rangelei um die Identität Ägyptens ausreicht, um ein langfristiges Bündnis zwischen den beiden Akteuren zu schmieden, denn die Islamisten legen kein klares Konzept für Ägypten vor. Eine Allianz der Armee mit ihnen wäre langfristig voller Risiken. Beiden mangelt es an einer strategischen Vision für die Zukunft. Diese aber hängt vom wechselseitigen Wirken zahlreicher Kräfte ab, die keinem von beiden die Möglichkeit lassen werden, das Schicksal des Landes im Alleingang zu bestimmen.

Interview: Hani Darwish

© Qantara.de 2011

Übersetzung aus dem Arabischen von Gert Himmler

Der ägyptische Historiker Khaled Fahmy ist Leiter des Bereichs Geschichtswissenschaften der Amerikanischen Universität Kairo (AUC).

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de 2011