Vom Leben in der Lücke
Das Gefühl, zwischen zwei Heimaten zerrissen zu sein, den Wunsch, zwei Kulturen miteinander vereinbaren zu wollen, kann jemand ohne Migrationsgeschichte schwer nachvollziehen. Die Sehnsüchte und Konflikte, die eine doppelte Identität mit sich bringt, ziehen sich durch Rasha Khayats Erstlingsroman "Weil wir längst woanders sind".
Das Buch erzählt die Geschichte von Layla und Basil, einem Geschwisterpaar mit arabischem Vater und deutscher Mutter. Nicht nur das haben die zwei Protagonisten mit der Autorin gemeinsam, sondern auch, dass sie viele ihrer Kindheitsjahre in Saudi-Arabien verbracht haben.
Layla hat eine Entscheidung getroffen, die niemand in ihrem deutschen Umfeld verstehen kann: Sie ist in das Land ihres Vaters zurückgekehrt, um einen Araber zu heiraten. Saudi-Arabien? Das ist doch das Land "gegen dessen politische Zustände ich alle paar Wochen Online-Petitionen unterzeichne", sinniert der Ich-Erzähler Basil, bevor er zur Hochzeit seiner Schwester nach Jiddah fliegt.
Kaum größer könnte der Unterschied sein zwischen Basils WG-Leben im Hamburger Stadtteil St. Pauli und dem Hochglanzapartment seines Onkels Khaled, das er zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder betritt.
Das Gefühl, annektiert zu werden
Rasha Khayats Buch lebt von diesen Kontrasten, die sie lebendig beschreibt und dabei unsere vorgefertigten Bilder ins Wanken bringt. Khayat ist Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin. Seit 2010 betreibt sie einen Blog mit dem Titel "West-östliche Diva", den sie als "deutsches Fenster zu Arabistan" bezeichnet.
Als Khayat, geboren in Dortmund und aufgewachsen in Jiddah, Ende der achtziger Jahre nach Deutschland kam, stieß sie auf hart zementierte Vorurteile. Mit ihrer Hauptfigur Layla teilt die Autorin, dass ihr häufig Klischees entgegengeworfen wurden, die aus einschlägigen Reißern wie dem Roman "Nicht ohne meine Tochter" stammten.
"Dieses Gefühl, annektiert zu werden, kenne ich gut. Sobald ein ausländerfeindlicher Kommentar fiel, folgte oft der Nachsatz: 'Ja, aber dich meine ich ja nicht!'", erzählt Khayat. "Das ist doch absurd. Was unterscheidet mich denn in dem Moment von jener vermeintlich gesichtslosen Barbarenmasse, über die geschimpft wird?"
Wie komplex die Fäden in bikulturellen Familien verlaufen, zeigt Khayat mit kurzen Rückblenden, in denen sie die Geschichte von Basil und Laylas Eltern nacherzählt. Die Mutter stammt aus einem konservativen Haushalt im "Nachkriegsgrau des Ruhrgebiets", der Vater hingegen wuchs als Kind eines Schneiders in einer mekkanischen Großfamilie auf.
Als Layla schließlich Basil ihren künftigen Ehemann vorstellt – halb Araber halb Engländer – sagt sie lapidar: "Er ist einer von uns, Basil. Auch so eine halbe Sache." Mehr als Basil ist es Layla satt, immer nur durch Filter wahrgenommen zu werden, ständig über den Islam diskutieren zu müssen. Und so gibt sie letztendlich ihr Mehr an Freiheit als Frau in Deutschland für das Gefühl auf, angenommen zu sein und nicht immer ausgefragt zu werden.
Auch ein Porträt Saudi-Arabiens
So ist "Weil wir längst woanders sind" auch ein Porträt Saudi-Arabiens, das Khayat oft aus der Perspektive des Zwischenmenschlichen, der Gespräche und Begegnungen, zeichnet. Aber es ist auch ein Land, in dem sich erzkonservative Vorschriften mit modernen Lebensentwürfen aneinander reiben – wie etwa in der Szene, als eine ausgelassene Gruppe von Teenagern in einem Restaurant plötzlich von der Religionspolizei überrascht wird.
"Mein Verhältnis gegenüber Saudi-Arabien ist für mich selbst manchmal kompliziert", meint Rasha Khayat. Doch jenseits des eingefahrenen politischen Zustands hat sie bei ihren letzten Besuchen im Land auch Veränderungen festgestellt. "Ich sehe, dass die sehr junge saudische Bevölkerung ihr Land gern verändern möchte, gesellschaftliche Beiträge leistet. Beispielsweise gibt es inzwischen eine sehr kleine, aber feine Szene für Kunst und Film", erzählt Khayat.
Der 37-Jährigen liegt Saudi-Arabien am Herzen, vor allem wegen der vielen Erinnerungen, die für sie im Land ihres Vaters liegen. Prägend sind für Rasha Khayat die Verbindungen zu dortigen Freunden und Familie, etwa dem Onkel, der als Journalist für seine Arbeit häufig ins Gefängnis wanderte. Anders als Layla kann sich Khayat aber ein Leben in Saudi-Arabien nicht vorstellen, fühlt sich in ihrer Wahlheimat Hamburg zuhause.
"Die Verortung des Selbst begleitet uns alle"
Dennoch war es Khayat wichtig, mit Laylas Geschichte zu zeigen, dass es auch andere Lösungen gibt. Damit rüttelt sie an der so weit verbreiteten Selbstgewissheit, die in unserer Annahme liegt, dass sich eine junge Frau wie Layla natürlich für das freiere Deutschland entschließen müsste. Mit Basil und Layla stellt sie jedoch zwei unterschiedliche Lebensentwürfe nebeneinander, ohne sie dabei zu bewerten.
"Die Frage nach der Verortung des Selbst, das 'Leben in der Lücke', ist ein Thema, das uns alle begleitet – offen oder latent, das kommt auf den einzelnen Menschen an", sagt Khayat. Ihr anregender Debüt-Roman stellt diese Frage so gelungen, dass man ihm viele Nachfolgewerke wünscht.
Marian Brehmer
© Qantara.de 2016
Rasha Khayat: "Weil wir längst woanders sind", Verlag Dumont 2016, 160 Seiten, ISBN 978-3-8321-9814-5