"Die" Scharia gibt es nicht
Neulich rief mich eine Jura-Professorin an und fragte: "Wären Sie so freundlich und würden mir ein Exemplar der Scharia zukommen lassen, vorzugsweise als PDF-Datei?" "Ich befürchte, Ihr Rechner hat nicht genug Speicherkapazität", antwortete ich. Auch ihr Hinweis, sie habe zusätzliche externe Festplatten, konnte meine Zweifel nicht ausräumen.
Die Rechtswissenschaftlerin ging davon aus, die Scharia sei ein kodifiziertes Gesetzbuch. Das ist eine geläufige Annahme, die vor dem Hintergrund etwa des IS-Terrors zu nachvollziehbaren Ängsten führt, auch unter Muslimen. Ängste, die rechtspopulistische Parteien erfolgreich aufnehmen und instrumentalisieren, wie ihre Wahlerfolge belegen. Die Anti-Islam-Programmatik der AfD ist da nur ein Beispiel: Kurzerhand erklärt sie den Islam zur Ideologie und verheimlicht, dass ihr Verständnis vom Islam von der überwältigenden Mehrheit der Muslime abgelehnt wird.
Die Ängste vor solchen Islamwahrnehmungen werden aber nicht weniger, wenn Muslime beteuern, sie hätten nichts mit dem Islam zu tun. Selbstverständlich wirkt der Islam nicht selbst. Er ist nicht handlungsfähig. Das aber sind wir Muslime. Es genügt nicht, einfach darauf zu verweisen, dass die meisten Muslime friedliebend seien, aber auch still. Ebenso wenig überzeugen Schuldzuweisungen an die Weltmächte mit ihrer in der Tat höchst fragwürdigen Machtpolitik. Der Koran sieht in der reflexhaften Schuldzuweisung eine Eigenschaft des Teufels. Er verlangt vom Menschen Einsicht und Selbstkritik.
Die Interpretation des Islam war von Gelehrsamkeit und nicht von Dogmen geprägt
Also: Ja, es gibt Gewalt im Namen der Scharia. Und nein, die Scharia gibt es nicht, sondern mehrere Scharia-Verständnisse, die sich naturgemäß auch aus den Lebensumständen speisen. Und wir Muslime müssen alles daransetzen, schöpfungsverachtende und realitätsfremde Narrative theoretisch und praktisch zu überwinden. Ich bin wie Navid Kermani davon überzeugt, dass sich solche Verständnisse weniger aus der Tradition des Islam speisen. Eher wirken sie wie ein Bruch mit ihr.
So zeichnete sich das traditionelle islamische Strafrechtsverständnis eben nicht durch drakonische Strafen aus, mit denen gegenwärtig der IS oder Staaten wie Saudi-Arabien auffallen. Körperstrafen waren damals in vielen Kulturen die Regel. Vielmehr bestach die islamische Strafrechtswissenschaft dadurch, dass sie präzise Voraussetzungen und nahezu unumstößliche strafprozessrechtliche Hürden geschaffen hatte.
Sie fügten sich etwa dem Islamrechtsprinzip, dass die "Gewissheit (Unschuld) nicht durch Zweifel (Verdacht) beseitigt werden kann" - das entspricht der heutigen Unschuldsvermutung im Strafprozess. Der Prophet hatte gewarnt, "lieber in der Milde oder im Freispruch zu irren, keinesfalls jedoch in der Strafe". Überhaupt ging es im überwältigenden Teil der traditionellen Scharia nicht ums Recht, schon gar nicht ums Strafrecht. Im Zentrum standen Moral und Ethik. "Ich wurde gesandt, um eure Moral zu vervollkommnen", sagte der Prophet. Umso tragischer erscheinen die heutigen Umdeutungen.
Die traditionelle Lesart ist geprägt von einer bewährten Gelehrsamkeit und dem Wettlauf um methodologische sowie praktische Plausibilität. In dieser Form - und nicht durch institutionelle Dogmen - hat sich die Auffassung mehrheitlich durchgesetzt, dass die absolute Kenntnis der Scharia einzig Gott vorbehalten sei. Das bedeute sehr wohl, nach göttlichen Normen hinsichtlich des menschlichen Umgangs mit der Schöpfung zu suchen.
Diese menschliche Suche bescheidet sich jedoch mit Wahrscheinlichkeiten auf der Basis göttlicher Hinweise - nicht göttlicher Gesetze! - im Koran und in der als authentisch verifizierten Prophetentradition. Die Folge sind die vielen islamischen Denk- und Rechtsschulen, die in gegenseitiger Anerkennung miteinander konkurrierten und koexistierten.
Extremistische Gruppen im frühen Islam wie die Kharidschiten, die in ihrem Schariaverständnis ein absolutes "Gottesrecht" sahen und als Vorläufer des IS gesehen werden können, waren gegenüber der klassischen Gelehrsamkeit nicht konkurrenzfähig. Ihnen fehlte das argumentative Niveau. Auf die Absurdität ihrer Lesart wurden sie bereits von Ali aufmerksam gemacht, dem vierten Kalifen und Vetter Mohammeds, den der Prophet "Tor zur Weisheit" nannte. Die Kharidschiten warfen Ali vor, Gottes Recht gebrochen zu haben, weil er die Frage, wer Kalif sein soll, einem menschlichen Schiedsgericht überlassen habe, statt sich gewaltsam durchzusetzen, wie es Gottes Recht eben vorsehe.
Ali ließ die Menschen versammeln und brachte eine Kopie des Korans. Er berührte den Koran und befahl ihm, zu den Menschen zu sprechen und sie über Gottes Recht zu informieren. Einer der Versammelten rief: "Was tust du da? Der Koran kann nicht sprechen!" Genau darauf aber hatte Ali aufmerksam machen wollen. Der Koran als gedrucktes Buch, sagte Ali, "ist lediglich Tinte und Papier, und er wirkt durch Menschen - die aber haben ein limitiertes Urteilsvermögen."
Das eigentliche Problem in der Scharia-Debatte
Gott indes ist erhaben über menschliche Unzulänglichkeiten. Gerade deshalb hatte es Mohammed untersagt, das Urteil eines Großgelehrten ein Urteil Gottes zu nennen - es bleibt Menschenmeinung. Damit ebnete er den Weg für ein Wetteifern um Plausibilität in der Anerkennung von Diversität. Der Scharia liegt mithin eine mehr als tausendjährige menschliche Theoretisierung, Praxis und Transformation zugrunde.
Ein Buchhändler etwa in Ägypten oder Jordanien wäre erstaunt, würde man bei ihm "die Scharia" bestellen. Ist er geschäftstüchtig, wertet er dies als Angebot, den gesamten Bestand an islamtheologischer Literatur bei ihm kaufen zu wollen - und die künftigen Bücher gleich mit. Denn alle diese Werke stellen jeweils Versuche dar, die Scharia zu verstehen. "Ich würde gerne die Scharia kaufen" - das wäre ein Kunde fürs Leben!
Die Scharia ist kein Gesetzbuch. Sie kann nicht als PDF-Datei verschickt und auch nicht nationalstaatsrechtlich "eingeführt" werden. Dass die Scharia für viele zum Schreckgespenst geworden ist, liegt am Erstarken sinnfreier Lesarten in den vergangenen Jahrzehnten. Das ist das eigentliche Problem in der Scharia-Debatte. In der traditionellen islamischen Gelehrsamkeit galt: Im Wettlauf um theologische Plausibilität besteht nur, wer intellektuell gerüstet und zudem glaubwürdig ist. Die Kharidschiten waren es nicht. Mir scheint, als habe unser eigenes Unvermögen eine Lesart konkurrenzfähig gemacht, die in der Geschichte des Islam so nie konkurrenzfähig war.
Was müssen wir dagegensetzen? Das Niveau des Arguments und der Tat - gesamtgesellschaftlich. Es kann nicht bloß Aufgabe der Minderheit sein, Vorurteile gegen sie aufzubrechen.
Çefli Ademi
© Süddeutsche Zeitung 2016
Çefli Ademi, 35, ist Jurist und Islamrechtler. Er leitet das Institut für Islamische Rechtswissenschaft an der Universität Münster.