Die maghrebinischen Recycling-Pioniere
Yassine Mazzout lächelt verlegen, als er aus dem Auto steigt. Der süßlich-beißende Gestank, von der Sommerhitze noch verstärkt, macht ihm nichts aus. Hier in Akreuch, der wilden Müllkippe vor den Toren von Rabat, hat er seine Kindheit verbracht. Es waren mehr als acht Jahre Schufterei - ein Kampf mit Hunderten anderen um jedes einzelne Stück Abfall, das irgendwie verwertet und verkauft werden konnte. "Chiffonniers" werden sie genannt - Männer, Frauen und Kinder, die vom Müll leben und ihre Gesundheit riskieren. Entweder hausen sie auf den Müllkippen und wühlen nach Verwertbarem, oder sie ziehen nachts mit Handkarren durch die Straßen und klauben Wertstoffe aus den Tonnen.
Yassine zeigt auf drei große Narben an den Unterarmen. "Es waren sehr harte Bedingungen. Im Müll haben sich viele Menschen vergiftet und verletzt. Ein Mädchen starb vor meinen Augen, als es von einem Müllwagen überrollt wurde. Ein anderes hat drei Finger verloren. Mir ist Gott sei Dank nicht viel passiert. Aber ich kann sagen: In der Müllkippe haben viele ihre Gliedmaßen riskiert - oder ihr Leben."
Marokkos erste Recycling-Kooperative
Die Deponie in Akreuch ist inzwischen geschlossen und zugeschüttet. Grünzeug wächst über Millionen Tonnen Müll, doch an vielen Stellen sind Plastiktüten und Krankenhausabfälle sichtbar. Schillernd-braune Schlacke sickert ins Tal. Yassine Mazzout steigt wieder ins Auto. Ihm ist es zu verdanken, dass sich hier niemand mehr quälen muss.
Die Müllsammler arbeiten jetzt ein paar Kilometer weiter, in Oum Azza. Hier lädt eine französische Firma den Müll von Rabat ab, im Auftrag der Stadtverwaltung. Um diesen Müll - mehr als 500 Tonnen am Tag - kümmern sich seit ein paar Jahren Mazzout und seine ehemaligen Konkurrenten von der wilden Müllkippe. Mit ihnen hat er auf dem Deponiegelände die Gruppe "Attawafouk" gegründet, zu deutsch: "Vertrauen". Es ist die erste Kooperative für Abfall-Recycling in Marokko - und bis heute die einzige im ganzen Land.
Der abgekippte Müll wird auf ein Metall-Förderband geschaufelt, über eine Trommel gleichmäßig verteilt, Biomasse wird vom Rest getrennt - und dieser Rest landet dann auf Laufbändern, an denen Menschen stehen und von Hand weiter trennen. "Wir trennen alles, soweit wir können: Kartonpapier, Plastikflaschen, Folien, Metall", sagt Yassine Mazzout. "Alles, was kein organischer Müll ist und auch kein Wertstoff zum Recyceln - auch das können wir noch aufbereiten: Die Zementfirma nebenan kauft uns diese Reste ab - die nutzen sie dann als Ersatzbrennstoff für ihre Produktion. So erhöhen wir den Prozentsatz des Mülls, der noch Verwendung findet."
"Hier sind alle gleich"
Die ersten Maschinen finanzierte der französische Abfall-Versorger, alles andere musste sich die Kooperative selbst erarbeiten. Attawafouk lagert das getrennte Material, dann können interessierte Firmen Angebote machen. Die Mitglieder der Kooperative entscheiden dann gemeinsam, wem welche Wertstoffe in welchem Zeitraum verkauft werden - und zu welchem Preis.
"Auf der wilden Müllkippe herrscht das Recht des Stärkeren. Hier in der Kooperative sind alle gleich. Alle verdienen gleich, alle sind als Arbeitskraft gleichbedeutend. Da gibt es auch für mich keine Ausnahme - als Präsident bin ich auch nur ein Mitglied unter Gleichen", so Mazzout.
Mehr als 460.000 Euro im Jahr setzt Attawafouk mittlerweile mit Recycling um. Die Kooperative konnte damit schon eine Plastikpresse kaufen, einen LKW für Auslieferungen und einen Bus, der die Mitarbeiter zur Arbeit und wieder nach Hause bringt. "Früher war es furchtbar", sagt Lakbira Makroumi, die jetzt auch für die Kooperative arbeitet. "Da draußen in der Müllkippe - in der Sonne, im Regen, manchmal auch in bitterer Kälte. Außerdem wussten wir nie, wie viel Geld wir nach Hause bringen. Das ist jetzt alles viel besser."
Zum ersten Mal lohnt sich die harte Arbeit mit dem stinkenden Müll. Die Menschen tragen jetzt keine Lumpen mehr, sondern Handschuhe und Schutzkleidung, arbeiten in geregelten Sechs-Stunden-Schichten, bekommen ein festes Gehalt, umgerechnet 250 Euro im Monat, und sie sind krankenversichert.
Zwar hat Marokko im vergangenen Sommer einigermaßen revolutionär die Plastiktüten aus den Supermärkten verbannt und die privatisierte Müllabfuhr holt - zumindest in den Städten - den Abfall ziemlich zuverlässig ab. Aber was die Mülltrennung angeht, ist noch viel Luft nach oben. Alles wird im Haushalt zusammengekippt, wird von den Müllsammlern in der Stadt zerpflückt, der Rest landet dann auf der Müllkippe. Ein großer Teil der wertvollen Biomasse im Abfall wird etwa durch Batterien, oder Krankenhausmüll verseucht - und dadurch als Kompost unbrauchbar. Der organische Müll wiederum verunreinigt die Wertstoffe, die noch recycelt werden sollen.
Yassine Mazzout fürchtet, dass es bis zu einer Mülltrennung direkt beim Verbraucher noch lange dauert. Weil es am politischen Willen fehlt. "Auch in Europa gibt es ja Städte, in denen der ganze Abfall zusammengekippt wird, so wie bei uns. Da müssen Strategien her, kurzfristige, langfristige", sagt er. "Die Leute müssen sensibilisiert werden - vom einzelnen Haushalt bis zur großen Firma, vom Schulkind bis zum Politiker. Vielleicht sind wir in dreißig Jahren so weit, dass hier endlich eine direkte Trennung von Müll durchgesetzt wird."
Auf jeden Fall wird der Müllberg immer größer, um den sich die Kooperative Attawafouk kümmern muss - weil es sonst niemand tut. Die Weltbank interessiert sich für das Projekt. In ein paar Wochen soll das zweite Recycle-Förderband an den Start gehen.
"Ich bin stolz auf das, was wir erreicht haben", sagt Mustapha Laflifla, ein hagerer Mann mit freundlichem Gesicht und einem großen Strohhut auf dem Kopf. Er ist Yassines rechte Hand in der Kooperative. "Wir arbeiten unter fairen, menschlichen Bedingungen. Und ich will, dass mehr Menschen so arbeiten können. Wir brauchen mehr Kooperativen wie unsere. Wir sind die erste, aber es müssen andere folgen, und wir wollen dabei helfen. Vielleicht gibt es irgendwann eine Föderation von Kooperativen - dann können wir mehr Druck auf die Politik machen."
Alexander Göbel
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