Das andere Volk Israel
Die Straße windet sich steil den Berg Garizim hinauf. Unten, eingebettet in die staubige Hügellandschaft, liegt Nablus: Palästinensische Metropole, politischer Brennpunkt im palästinensisch-israelischen Konflikt, jahrtausendealtes Zentrum menschlicher Kultur. In der Bibel trägt es den Namen Sichem und ist Heimat des Stammvaters Jakob und seiner 12 Söhne. Aus ihnen ging das Volk Israel hervor, von denen ein Teil noch immer auf dem Garizim lebt.
Hosni Cohen ist einer der 12 samaritanischen Priester und Direktor des kleinen Museums in Kiryat Luza, dem Dorf der Samaritaner. Hier empfängt er, gekleidet in das traditionelle weiße Gewand und die rote Kopfbedeckung, seine Besucher.
Bewahrer des israelitischen Glaubens
"Das Volk Israel kam geeint aus Ägypten in das Heilige Land, doch um 1.000 vor Christus zerbrach das Bündnis. Im Süden schlossen sich die Stämme Juda und Benjamin zum Südreich Judäa mit der Hauptstadt Jerusalem zusammen. Die restlichen Stämme bildeten das Nordreich Samaria mit der Hauptstadt Sichem."
Die Samaritaner sind – ihrem Selbstverständnis nach – die letzten Nachfahren dieses Nordreichs. Seit mehr als 3.000 Jahren leben sie in unmittelbarer Nähe des Garizim, welchen sie als Heiligen Berg und Ort Gottes verehren.
"Wir bezeichnen uns selbst nicht als Samaritaner, sondern als 'Shomroni', die 'Bewahrer'. Denn wir bewahren die ursprünglichen Gebote unseres Herrn Mose", erklärt Hosni Cohen.
Nach Ansicht der Samaritaner wurde die israelitische Religion von den Juden im Exil verfälscht. So umfasst die samaritanische Thora einzig die fünf Bücher Mose und ist in Althebräisch verfasst, einer Sprache die jedes Gemeindemitglied von Kindesbeinen an lernt. Zwar finden sich auch viele Gemeinsamkeiten, wie die Einhaltung des Shabat oder die Beschneidung, dennoch betonen die Samaritaner gerne die Einzigartigkeit und Ursprünglichkeit ihrer Gebote, deren strikte Befolgung von jedem erwartet wird.
Der Grund hierfür liegt auch in der ständigen Sorge um das Überleben der Gemeinde: Jahrhunderte der Religionskriege und Zwangskonvertierungen haben die Gemeinschaft beinahe verschwinden lassen. 1918 zählte man gerade einmal 146 Samaritaner. Heute sind es immerhin knappe 800, nicht zuletzt aufgrund der verstärkten Einheiratung nicht-samaritanischer Frauen in die Gemeinde.
Identitäts-Dilemma
Etwa die Hälfte der Samaritaner lebt in Nablus, die andere in Holon bei Tel Aviv. Dort hat sich seit den 1970er Jahren eine zweite Gemeinde gebildet, angelockt durch bessere Job-Perspektiven und höhere Lebensstandards in Israel. Der Austausch zwischen den Gruppen ist rege: sie pendeln zwischen beiden Seiten, fast kann man sagen beiden Welten, kaufen ihr Gemüse auf dem Markt in Nablus und fahren an freien Tagen an den Strand in Tel Aviv.
Den Samaritanern in Nablus stehen keine Checkpoints und Mauern im Weg, denn sie besitzen das einmalige Privileg, sowohl die israelische als auch die palästinensische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Jassir Arafat leitete diese Initiative in die Wege und wird bis heute auf dem Garizim hoch geschätzt. Sie sprechen im Alltag Arabisch und haben sich ihrem hauptsächlich arabisch-muslimischen Umfeld in vielerlei Hinsicht angepasst. Dem gegenüber bewegen sich die Samaritaner in Holon immer weiter von diesem Teil ihrer Vergangenheit weg, sprechen Hebräisch und pflegen einen weit weniger konservativen Lebensstil als auf dem Garizim, wo es Mädchen und Jungen beispielsweise nicht gestattet ist, vor der Heirat miteinander auszugehen.
Es ist ein Identitäts-Dilemma in dem die Samaritaner stecken, denn sie stehen wahrhaftig zwischen den beiden Seiten eines Konflikts, der nicht nur politischer, sondern auch kultureller Art ist. Sie erheben den Anspruch, sich aus politischen Angelegenheiten grundsätzlich herauszuhalten, um keiner Seite auf die Füße zu treten. "Wir fühlen uns den Juden verbunden, denn unsere Religionen ähneln einander. Gleichzeitig fühlen wir uns den Palästinensern verbunden, denn wir leben mit ihnen, arbeiten mit ihnen und unsere Kinder gehen auf ihre Schulen", erklärt Yaqub, der in Nablus lebt.
Allerdings funktioniert das nicht immer ohne Konflikte: "Manche Juden halten uns für Araber, weil wir in Nablus leben und Arabisch sprechen. Und sie behandeln uns auch so", erklärt Yaqub. "Am Flughafen Ben Gurion werde ich beispielsweise jedes Mal von Kopf bis Fuß durchsucht - genau wie die Palästinenser." Den Samaritanern begegnen auch die Palästinenser manchmal mit Misstrauen oder gar Anfeindungen.
Brücke des Friedens
Kiryat Luza ist eine neutrale Zone der Begegnung zwischen den Parteien, mit dem "Café Paradise", das gleichzeitig auch ein Supermarkt ist, als ihr Zentrum: Israelische Soldaten decken sich hier mit Cola und Zigaretten ein, während Palästinenser den Laden aufsuchen, weil er als einziger im konservativen Nablus Alkohol im Sortiment hat. Israelische und ausländische Touristen schlürfen Cappuccino und freuen sich, wenn ein rot-bemützter Samaritaner den Laden betritt und das bunte Bild vervollständigt.
Die Samaritaner sehen sich gerne als Vermittler, als Brücke zwischen Palästinensern und Israelis. Offiziell befürworten sie eine Zwei-Staaten-Lösung, mit Jerusalem als geteilter Hauptstadt. Doch aktiv setzen sie sich dafür nicht ein. Man hat sich eingerichtet.
Wasef, der im "Café Paradise" arbeitet, bringt diese Haltung auf den Punkt: "Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern gehört zu unserem Leben. Wir mögen ihn nicht, doch haben wir uns inzwischen an ihn gewöhnt. Er betrifft uns auch nicht direkt. Wir Samaritaner sind in Israel genauso sicher wie in Palästina und so soll es auch bleiben."
Laura Overmeyer
© Qantara.de 2014