Am Rande der Anarchie
„Mute“ – auf Deutsch „stumm“ – mag als Titel für ein Musikalbum ungewöhnlich klingen, doch die Band El Khat hat ihn sehr bewusst gewählt. Wie in den Liner Notes des Albums erklärt wird, kann „mute“ vieles bedeuten: dass man nicht sprechen kann, dass ein Gerät vorübergehend die Wiedergabe stoppt oder ein Geräusch gedämpft wird. „Stummschalten“ lassen sich aber auch Ideen, Stimmen oder ganze Völker. Bandleader Eyal El Wahab hebt den Zusammenhang zwischen Stummschalten und Konflikt hervor: „Sobald es zwei von irgendetwas gibt, entstehen zwei Seiten. Und Seiten führen zu Konflikten. In solchen Fällen wird stummgeschaltet.“
Das neue Album der Band ist eine außergewöhnliche Mischung aus musikalischem Experiment und anarchischer Energie. Die drei Bandmitglieder, die früher in Jaffa, Israel, lebten und nun in Berlin zu Hause sind, erkunden das Thema „Stummschalten“ mit einer Reihe von Songs, die sich mit „Menschen“, „Orten“ und dem Thema „Verlassen“ befassen.
El Khat, bestehend aus El Wahab, dem Perkussionisten Lotan Yaish und dem Keyboarder Yefet Hasan, hat sich schon oft der Musik bedient, um sich mit ihrem jemenitisch-jüdischen Erbe auseinanderzusetzen. Die Heimat zu verlassen ist eine Erfahrung, die jemenitische Jüdinnen und Juden nur zu gut kennen. Bis 1948 waren jüdische Gemeinden in der arabischen und muslimischen Welt weit verbreitet. Zwar gab es immer auch schwierige Zeiten, aber im Großen und Ganzen lebten sie in relativem Einklang mit ihren Nachbarn.
Dies änderte sich nach der Gründung Israels, als arabische Jüdinnen und Juden in der gesamten Region gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen und nach Israel zu gehen. Dort wurden die meisten mizrachischen Juden allerdings nicht gerade begeistert aufgenommen. Ihre aus Europa stammenden israelischen Landsleute betrachteten sie als „weniger zivilisiert“ und behandelten sie wie Bürger*innen zweiter Klasse. In den 1940er und 50er Jahren wurden mehrere tausend jemenitische Kinder sogar ihren Eltern weggenommen und von jüdisch-europäischen Eltern aufgezogen. Seit ihren ersten Tagen in Israel kannten jemenitische Jüd*innen also das Phänomen des Stummschaltens.
Spuren einer gemeinsamen Musikgeschichte
In seinem aktuellen Buch "Recording History“ zeigt der Historiker Christopher Silver, wie sehr die Geschichte von Juden und Muslimen in Nordafrika verbunden ist. Sein Buch ist eine Reise in die längst versunkene Welt der Schellackplatten und einer Musik, die eine ganze Epoche prägte. Interview von Tugrul von Mende
Offensichtlich politisch sind die Texte von El Khat nicht; die meisten handeln von zerbrochenen Beziehungen. Dennoch: Die Geschichte der jemenitischen Jüdinnen und Juden ist ein ständiger Subtext. In „Tislami, Tislami“ zum Beispiel singt die Band: „Danke, dass du mich vergessen hast / So kann ich neue Erinnerungen haben / Danke für die Gefahr, die du mir gebracht hast / So kann ich meine Augen weit öffnen / Danke, dass du die Probleme viel größer gemacht hast / So konnte ich ein großartiger Problemlöser werden.“ Das sarkastische „Danke“ gilt einer Welt, die Leid verursacht die Folgen einfach ignoriert.
Unorthodoxe Instrumente
El Khat lassen sich musikalisch von der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas inspirieren, einer bestimmten Tradition verpflichtet sind sie jedoch nicht. Jeder Titel des Albums enthält Elemente, die in einer musikalischen Tradition der Region stehen, aber El Khat und ihre Mitstreiter verleihen ihnen einen einzigartigen Charakter. Ob klappriger Orgelklang oder Trommeln, die elektronisch geloopt und bis zur Unkenntlichkeit gedehnt werden: Von vorgefassten Klangvorstellungen lässt sich die Band nicht stummschalten.
Die Klangvielfalt, die die Band mit ihrem minimalen Einsatz von Instrumenten erzeugt, ist außergewöhnlich, ihr Klang für eine dreiköpfige Band bemerkenswert ausdrucksstark. Dies ist zum Teil auf die Hilfe von Gastmusiker*innen zurückzuführen: Iby Ibn Yakir an der Trompete, Gila Alaween am Bass und Katrin Laso am Gesang sowie Hila Ahwal an der Violine. Aber es ist auch das Ergebnis von El Wahabs eklektischem Ansatz. El Wahab brachte sich selbst das Cellospielen nach Gehör bei. Heute ist die Hälfte der Instrumente, die er spielt, offenbar aus gefundenen Gegenständen hergestellt. Die „blaue Gallone“, wie er es nennt, ist zum Beispiel ein alter Krug, die selbstgebaute „Kubana“ nach einer jemenitischen Brotsorte benannt.
Das Ergebnis ist eine unglaubliche Mischung aus Tradition und Moderne. Nur einen Schritt davon entfernt, ins Chaos abzurutschen, schrauben sich die Rhythmen und Harmonien an die Grenze zur Anarchie und wieder zurück – mit Stil und Elan. Wie zu Hochzeiten des Punks in den 1970er Jahre bringen El Khat ihren Sound nicht nur an die Grenze der musikalischen Akzeptanz, sondern stoßen ihn manchmal auch direkt über den Abgrund. Die Atmosphäre des freien Falls, die die Band so erzeugt, lässt einen den Atem anhalten. Manchmal fühlt es sich fast an, als würde man auf eine Explosion oder Entgleisung warten – es ist unbestreitbar berauschend.
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