Der Islam rückt in den Vordergrund
"4+4+4" – das ist nicht nur eine überschaubare Matheaufgabe, sondern der Name einer kürzlich verabschiedeten türkischen Schulreform: Die Bilder von hitzigen Debatten, Großdemonstrationen in Ankara und von sich buchstäblich an den Kragen gehenden Abgeordneten, zeigen, dass es hier nicht nur um eine Umstrukturierung des Schulalltags geht, sondern wieder einmal die Machtverhältnisse im Lande verhandelt werden.
Doch zunächst die Eckdaten: Bislang waren in der Türkei acht Jahre Grundschulausbildung Pflicht. Je nach Notenlage und Entscheidung konnte dann für vier weitere Jahre ein Gymnasium oder eine Berufsschule besucht werden.
Die Reform "4+4+4" zielt dagegen auf eine zwölfjährige Schulpflicht: Vier Jahre Grund-, vier Jahre Mittel- und vier Jahre Oberschule. Das letzte Drittel kann an einem allgemeinen Gymnasium, einer Berufsschule oder per Fernstudium absolviert werden.
Wer zukünftig von zu Hause aus lernen darf, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar erkennbar. Während der türkische Bildungsminister Ömer Dinçer beteuert, es handle sich um eine Ausnahmeregelung für erkrankte Kinder oder Gefangene, mutmaßt die breite Öffentlichkeit, dass es hier um ein schrittweises Zugeständnis an konservative Familien handele, die ihre Töchter am liebsten, fern aller Versuchungen, auch während der Schulzeit zu Hause ließen.
Eine weitere Veränderung betrifft den Lehrplan: Hinzu kommen ab der 5. Klasse belegbare Wahlfächer, unter ihnen auch "Korankunde" und "Das Leben des Propheten Mohammed".
Vorgeschlagene Fächer, wie "Moral" oder "Charakterbildung" werfen die Frage auf, wessen Moralvorstellungen hier wie vermittelt werden sollen. Da das Angebot der Wahlfächer de facto davon abhängt, welches Lehrpersonal vorhanden ist oder eingestellt wird, kann man sich denken, welche Fächer in Zukunft mehr Förderung erwarten dürfen: Schach oder Darstellendes Spiel sind es wahrscheinlich nicht.
Stärkung religiöser Einflüsse
Mehr Klarheit gibt es allerdings erst nach den langen Sommerferien. Dann soll die große Umstrukturierung in die Tat umgesetzt werden – wie dies personell oder infrastrukturell gelöst werden soll, wagt bislang jedoch kaum jemand zu beantworten.
Erklärtes Ziel ist jedoch: mehr Flexibilität und, so Regierungschef Erdoğan, das Heranziehen einer "religiösen Jugend". Eine Formulierung, die in den letzten Wochen, in denen die AKP laut über eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes und die Legalisierung von Heiraten noch vor Beenden der Schulzeit nachgedacht hat, sehr genau wahrgenommen wurde – "Quo vadis Türkei?" - Das fragen sich dieser Tage sicher viele.
In einem Punkt sind sich alle Beobachter einig: Im Kern der Reform steht die Rehabilitierung der Mittelschule und die damit verbundene Aufwertung der İmam-Hatip-Schulen: Diese Einrichtungen, die 1951 als staatliche Berufsschulen unter anderem für Prediger und Koranlehrer begründet wurden, wurden bislang von Eltern bevorzugt, die ihren Kindern eine religiöse Erziehung angedeihen lassen wollten. Ergänzend zum obligatorischen Unterrichtsstoff bieten sie Arabisch sowie Islam- und Korankunde an.
Um die heutigen Reformbestrebungen richtig einzuordnen, muss man wissen, dass bei der Bildungsreform nach dem "kalten" Militärputsch von 1997 versucht wurde, den Einfluss dieser İmam-Hatip-Schulen einzudämmen: Um deren Schülerzahl zu reduzieren, wurde gefordert, die allgemeine Schulpflicht von fünf auf acht Jahre zu verlängern.
Damit wurde die Mittelstufe abgeschafft, die es den Schülern bereits nach der fünften Klasse ermöglichte, auf eine Imam-Hatip-Schule oder eine andere Berufsschule zu gehen.
In Folge der damaligen Reformen konnten die Imam-Hatip-Schulen erst ab der neunten Klasse besucht werden, die Schülerzahl der Imam-Hatip-Schulen sank dementsprechend rasch. Ein Entwicklung, die die jetzige Reform rückgängig machen will. Die AKP selbst nennt "4+4+4" eine Antwort auf die Geschehnisse von 1997.
Ähnlich beurteilt es Yunus Memiş von der konservativen Lehrergewerkschaft Eğitim Bir-Sen: "Die Reform beseitigt die Effekte von 1997." Natürlich sei man erfreut über die Stärkung des religiösen Zweiges. Die Regierung reagiere damit auf ein tiefes Bedürfnis innerhalb der türkischen Gesellschaft.
Er persönlich würde allerdings noch weitergehen und sich eine Aufteilung in reine Mädchen- und Jungenschulen wünschen. Neben seinem Schreibtisch hängt ein Plakat, auf dem ein Schuljunge im leichtfüssigen Gang die Stufen des neuen Schulssystems erklimmt.
Große pädagogische Mängel
Doch dieser Tage gibt es nicht allzu viele Befürworter der Reform, wie Memiş. Oppositionsparteien ebenso wie die pädagogischen Fakultäten der wichtigen Privatuniversitäten oder die Lehrergewerkschaften sind verärgert, dass der Reform kaum eine öffentliche oder parlamentarische Debatte vorangegangen ist, sondern die AKP die Reform, die nicht im Wahlprogramm von 2011 erwähnt worden war, im Alleingang ausgearbeitet und im Eiltempo verabschiedet hat.
"Weder pädagogische Experten noch Vereinigungen der Zivilgesellschaft wurden zu Rate gezogen", meint Kasım Birtek von der Lehrergewerkschaft Eğitim-Sen: "Das ist ein undemokratisches Vorgehen, das uns zutiefst beunruhigt."
Auch der Gedanke, mehr Religionsunterricht in staatlichen Schulen anzubieten, stößt bei Birtek auf Befremden: "Der Staat sollte sich in religiösen Belangen objektiv verhalten und den Menschen selbst überlassen, wie sie sich religiös weiterbilden." Religionsunterricht der staatlichen Gestaltung und Kontrolle anheimzustellen, lege den Verdacht nahe, dass Religion hier vor allem als ein Instrument benutzt werde. "Unsere Gesellschaft reagiert sensibel auf religiöse Themen, das lässt sich nur zu gut für die eigenen Zwecke nutzen."
Problematisch sei es auch, Kinder bereits nach vier Jahren Grundschule aufzuteilen. Nicht nur Birtek befürchtet dadurch eine Verschärfung der sozialen Unterschiede. Nicht zuletzt, weil in der Türkei Kinder, um auf die nächste Ausbildungsstufe zu gelangen, an zahlreichen Prüfungen teilnehmen müssen, die über Qualität und Art der nächsten Schulstufe entscheiden. Nicht zuletzt für kurdischsprachige Schüler, die häufig bis zum Ende der Grundschulzeit mit der türkischen Unterrichtssprache hadern, könnte dies entscheidend benachteiligen.
Bildungspolitik als ein Austragungsort politischer Machtkämpfe? Das ist in der Türkei kein neues Bild: Bis heute ist der landesweit verbindliche Lehrplan ein machtvolles Instrument politischer Einflussnahme. Der eigentliche Skandal, so Birtek, sei, dass auch diese Reform an den eigentlichen Problemen des türkischen Schulwesens vorbeiführe.
Schlecht bezahlte Lehrer, überfüllte Klassenzimmer, Frontalunterricht, der zu wenig Raum für eigenständiges Arbeiten und Entwicklung der Kritikfähigkeit lässt, sowie eine Überfülle an externen Abfrageprüfungen – das sind die Themen, die angepackt werden müssten und die auch diese Reform beinahe gänzlich unberührt lässt.
Sonja Galler
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de