Mitten ins Herz

Mit "The Enlightenment of the Greengage Tree" schenkt uns Shokoofeh Azar eine schöne, wenn auch wundersame Fabel, die in einer grausamen Welt spielt. Zwar spenden die Vergangenheit und das Reich der Magie Momente der Hoffnung, aber doch letztlich obsiegt die raue Wirklichkeit. Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Die Geschichte lehrt uns, dass nachrevolutionäre Zeiten oft durch Chaos geprägt sind – um es vorsichtig zu sagen. Jede Fraktion will dem gesellschaftlichen Umbruch zwar ihren Stempel aufdrücken, aber nur den entschiedendsten und mächtigsten gelingt es. Im Iran war das nicht anders. In den ersten Jahren nach dem Umsturz bekämpften die Anhänger Ayatollah Khomeinis vor allem ihre einstigen Weggefährten, die die neu entstehende Theokratie nicht mittragen wollten.

Shokoofeh Azars The Enlightenment of the Greengage Tree spielt in der Zeit der ersten Repressionswelle. Von 1979 bis 1989 ging die religiöse Führung des Landes systematisch gegen jeden vor, der ihr verdächtig erschien. Lehrer, Intellektuelle, Künstler und alle anderen, die nicht auf Parteilinie waren, wurden inhaftiert und weggesperrt. Bücher mit alten persischen Texten wanderten auf den Scheiterhaufen, weil sie als nicht wahrhaft islamisch galten – oder auf eine Zeit verwiesen, in der das Land noch pluralistisch war und kein monotheistischer Staat.

Der Versuch, die Wirren jener Zeit zu schildern, erscheint als nahezu unmögliche Aufgabe, zumal sich die Frage stellt, wo man überhaupt anfangen sollte.  Anstatt ein umfassendes Bild der Gräueltaten zu zeichnen, schlägt Azar die umgekehrte Richtung ein und konzentriert sich auf das Schicksal einer Familie und die ganz konkreten Folgen der Unruhen, mit denen sie zu kämpfen hat. Dieser mikroperspektivische Blick macht die Schrecken jener Zeit im persönlichen Erleben greifbar und lässt uns Zeuge werden, wie die Obrigkeit eine Familie verwüstet.

Eine Geistergeschichte

Neben der Konzentration auf die Familie und das Dorf, in dem diese lebt, schafft Azar eine magisch-realistische Welt nach dem Vorbild von Gabriel García Márquez. Den ersten Hinweis auf die Magie der Geschichte erhalten wir, wenn klar wird, dass der Erzähler der Geist der jüngsten Tochter der Familie ist.

Die dreizehnjährige Bahar wurde von den Sicherheitskräften getötet, als diese in das Haus der Familie in Teheran eindrangen und die Bibliothek verbrannten, wo sich Bahar tragischerweise versteckt hielt. Die Familie floh daraufhin in ein kleines, abgelegenes Dorf in der Hoffnung, dem Wahnsinn zu entkommen und neben ihrer intellektuellen Freiheit auch ihr Leben zu retten. Doch wie sich herausstellen wird, ist kein Ort weit genug entfernt, um dem Zugriff des Staates zu entkommen.

Buchcover Shokoofeh Azars: "The Enlightenment of the Greengage Tree"; Foto: Europa Editions
Die Autorin Shokoofeh Azar schenkt uns eine schöne, nachdenkliche, aber auch wunderliche Fabel, die in einer grausamen Welt spielt. Manche Phantasiewelten werden geschaffen, damit ihre Figuren darin entkommen können. Hier allerdings ist die Phantasie fast ein Trugbild der realen Welt, das das Chaos und das Leid der Ereignisse im Iran spiegelt.

Erneut erscheinen die Sicherheitskräfte auf der Suche nach menschlichem Kanonenfutter für den endlosen, blutigen Krieg gegen den Irak. Später kehren sie zurück und suchen nach allen, die als konterrevolutionär gelten könnten. Sie dringen in die Häuser ein und beschlagnahmen neben Büchern und Zeitschriften alles, was als potenziell gefährlich angesehen werden könnte, und verbrennen es.

Als der älteste Sohn verhaftet wird und im Arrest stirbt, zerbricht die Familie. Seine Mutter Roza erntete zum Zeitpunkt des Todes ihres Sohnes gerade Reineclauden von einem der Bäume im Garten der Familie.  Als sie den Tod des Sohnes in sich spürt, steigt sie herunter, geht in den Wald und setzt sich drei Tage lang in die Krone der höchsten Eiche.

Während die Geschichte dem körperlichen Schicksal der Familie vor Ort nachspürt, erlangen wir Einblicke in die Folgen für die spirituelle Welt. Unter der Begleitung des Geistes von Bahar treffen wir die alten zoroastrischen Geister aus dem vorislamischen Iran, die gelegentlich Rat und Hilfe anbieten, sowie auf die Dschinn, die die umliegenden Wälder bevölkern.

In Trauer um den Iran

Irgendwann trauert offenbar selbst das Wetter um den Iran. Einhundertsiebenundsiebzig Tage lang fällt schwarzer Schnee auf das Dorf. Als schließlich alle Wohnungen einstürzen, ist die gesamte Bevölkerung gezwungen, im Haus der Familie Schutz zu suchen. Das Haus liegt auf einem Hügel etwas außerhalb der Stadt und kann so den schlimmsten Schäden entkommen. Die Menschen werden durch ein Feuer warmgehalten, das die Geister der Zoroastrier in einem Holzofen durch das Rezitieren von Gebeten an das Feuer und an die Unantastbarkeit der Wahrheit in Gang halten.

Von ihrer Regierung und deren Anhängern verraten, ist es kein Wunder, dass die Familie und das Dorf in der jenseitigen Welt und in der Vergangenheit nach Hilfe suchen. Weil Menschen ihren Verstand benutzen, werden sie verhaftet und getötet. Fast eine ganze Generation junger Männer wird ausgelöscht im Kampf gegen den Irak um einen wenige Kilometer breiten Wüstenstreifen. Welche Hoffnung oder Freude hält diese Welt noch bereit?

Das Haus ist voller Antiquitäten und Kostbarkeiten, die die Familie aus ihrem Zuhause in Teheran bergen konnte. Doch sie müssen auf dem Dachboden versteckt gehalten werden. Dort verrotten sie langsam oder werden von Mäusen zerfressen. Das neue Regime überschreibt die bisherige Geschichte und löscht sie damit nach und nach aus. Abseits der offiziellen Linie verblassen alle Schönheit und Anmut im Nichts.

Azar schenkt uns eine schöne, nachdenkliche, aber auch wunderliche Fabel, die in einer grausamen Welt spielt. Manche Phantasiewelten werden geschaffen, damit ihre Figuren darin entkommen können. Hier allerdings ist die Phantasie fast ein Trugbild der realen Welt, das das Chaos und das Leid der Ereignisse im Iran spiegelt. Zwar spenden die Vergangenheit und das Reich der Magie Momente der Hoffnung, aber letztlich obsiegt die nackte Wirklichkeit.

The Enlightenment of the Greengage Tree ist ein Buch, das nicht nur ans Herz geht, sondern auch zum Nachdenken anregt. In gewisser Weise sind die fantastischen Elemente der Geschichte so irreal, dass wir nicht umhin können, der Realität und Brutalität des Regimes ins Auge zu sehen.

Wer dieses Buch liest, kann sich der Magie von Azars Erzählung nicht entziehen und darf sich über ein großartiges literarisches Werk freuen. Wer dieses Buch liest, öffnet seinen Blick für die Magie und Phantasie in den Händen einer großen Autorin, die uns die leidvollen Seiten des Lebens nahe bringt, ohne offen politisch oder polemisch zu werden. Falls Sie im Jahr 2020 nur ein einziges Buch lesen wollen, sollten Sie The Enlightenment of the Greengage Tree von Shokoofeh Azar lesen.

Richard Marcus

© Qantara.de 2020

Aus dem Englischen von Peter Lammers