Bleiben oder gehen
Am 30. Oktober 2010 verschaffte sich eine regional operierende Gruppe militanter Kämpfer Zugang zu der Sayidat-al-Nejat-Kathedrale in Bagdad, in der sich Gläubige zum Sonntagsgottesdienst versammelt hatten. Die Terroristen feuerten auf die Kirchenbesucher und nahmen Geiseln, die sie festhielten, bis ein irakisches Einsatzkommando das Gebäude stürmte und etwa die Hälfte der Menschen retten konnte. Fast sechzig Personen wurden bei dem Anschlag getötet.
Sinan Antoons "The Baghdad Eucharist", 2013 für den "Internationalen Preis für den Arabischen Roman" nominiert, spürt dem Widerhall dieses Massakers nach. Doch er verlegt den Angriff um mehrere Jahre in die Zukunft, auf einen anderen, einen späteren 30. Oktober.
Zwei grundverschiedene Charaktere
Nahezu die gesamte Handlung des Buches fokussiert auf jenen verhängnisvollen Sonntag. Sie wird von zwei Stimmen erzählt: der des älteren, optimistischen Youssef und der seiner tief deprimierten jungen Nichte Maha. Youssef ist ein Pensionär, der den Irak nicht verlassen will, Maha studiert Medizin an der Universität Bagdad und hat es eilig mit ihrem Examen, damit sie möglichst schnell asu dem Land fliehen kann.
Die beiden Stimmen unterscheiden sich fundamental voneinander. Youssef mäandert durch die irakische Geschichte und greift dabei voller Zuneigung auf alte Familienfotos und persönliche Erinnerungen zurück. Maha ist voller Trauer und permanent fixiert auf die Gegenwart. Beide blicken zwar auf die Vergangenheit ihres Landes zurück, doch ihr Blick könnte kaum unterschiedlicher sein. Sie nehmen annähernd dieselben Ereignisse wahr und bewerten doch Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges völlig anders.
Eine Geschichte, zwei Beobachter
Sowohl Youssef als auch Maha sind aufgeweckte, kritische Beobachter der gesellschaftlichen Zustände ihres Landes. Youssef hegt eine hoffnungsvolle, optimistische Meinung, ohne allerdings dabei die gegenwärtigen oder vergangenen Verbrechen zu beschönigen.
Er erinnert sich gern an Episoden aus dem Leben von Verwandten und Freunden, aber auch daran, wie der Vater eines engen Freundes erleben musste, dass seine Bankguthaben eingefroren und sein Besitz konfisziert wurde, so dass die Familie nur noch die Emigration blieb. Und Youssef erinnert sich an den Augenblick, als sein jüdischer Freund ihm mitteilte: "Mein Vater hat unsere Namen für die Auswanderung registrieren lassen. Wir gehen nach Israel."
Wenn Maha zurückblickt und über den Exodus der Bagdader Juden nachdenkt – sie ist viel zu jung, um ihn selbst miterlebt zu haben –, ist er für sie nur ein Ereignis in einer langen Reihe von Grausamkeiten. Daneben dient es ihr als Warnung, was womöglich mit den Bagdader Christen geschehen könnte.
Youssef hat nie geheiratet, aber an seine große Liebe Dalal denkt er immer noch mit Schmerz und Wehmut. Der Heirat des Paares standen nicht nur Alter, soziale Herkunft und Bildungsstand im Weg, sondern auch die Tatsache, dass er Christ war und sie Muslimin.
Dennoch sieht Youssef den Irak aus seiner Weltsicht heraus als ein im Grunde harmonisches Land – ein Land, in dem er mit seinen Freunden zechen, die Karriereleiter hinaufklettern und im Großen und Ganzen das Leben genießen kann. Allein die jüngere Vergangenheit betrachtet Youssef mit anderen Augen.
In der Rückschau auf sein Leben versteht Youssef die derzeitigen Ausweitung des Sektierertums als ein vorübergehendes Phänomen, das vergehen wird. Die Phrasendrescherei im Fernsehen überrascht ihn, aber er behält seine ironische Distanz bei, wenn er sagt: "Ich schwöre bei Gott, selbst die Dattelpalmen sind heutzutage Sunniten oder Schiiten."
Diese Art von Distanz ist für Maha nicht einmal in ihren Streitgesprächen mit Youssef eine Option. Sie erlebt die Rhetorik im heutigen Irak als aufdringlich, allgegenwärtig, befremdlich und unentrinnbar.
Während Maha infolgedessen immer religiöser wird, geht Youssef mit religiösen Fragen eher ungezwungen um, Details scheinen ihnen weniger zu bekümmern: "Für mich war Christus ein unsterblicher Baum, der Stürmen und Fluten widerstand und jedes Frühjahr zu neuem Leben erwachte."
Youssef betrachtet den Irak als sein Land, Maha dagegen kann sich nicht vorstellen, dort ihren Platz zu finden. Wenn sie auf Facebook in einer Gruppe namens "Schöner Irak" alte Fotos betrachtet, denkt sie über die Zeit nach, die die Mitglieder der Gruppe "die gute alte Zeit" nennen und kann sich an keine glückliche Lebensphasen erinnern. Stattdessen fällt ihr ein, wie die Assyrer „sogar in jenen friedvollen Tagen der Königsherrschaft" umgebracht wurden und die irakischen Juden erst kollektiv enteignet und dann über Nacht aus ihrem Land gejagt wurden" - und war nicht, fragt sie sich, damals "Armut eine weitverbreitete Alltagserfahrung"?
Die Zukunft der irakischen Christen
In einem Interview mit der libanesischen Tageszeitung Al-Akhbar erklärt Antoon, die zentrale Fragestellung seines Buches sei, ob man "den Irak verlassen oder nicht verlassen" solle.
Im Laufe der Geschichte versucht eine Gruppe von Muslimen, Christen die Rückkehr zu ermöglichen. Das geschieht bald nach Mahas Heirat und sie reagiert darauf. "Ich war tief berührt, als ich sah, wie einige von ihnen direkt in die Kamera blickten und ihre 'christlichen Brüder' uns drängten, in ihre Häuser zurückzukehren, weil diese nun sicher seien".
Maha und ihr Mann folgen der Aufforderung. Sie kehren in ihr altes Viertel zurück, aus dem die Familie stammt. Dort wird Maha schwanger, während sie weiterstudiert. Alles geht gut, bis in der Nähe ihres Hauses eine Bombe explodiert und Maha eine Fehlgeburt erleidet.
Antoons Beschreibung von Mahas Fehlgeburt ist herzzerreißend. Hier ändert sich die Welt nicht nur, weil Leben verloren gehen, sondern auch, weil Menschen gar nicht erst auf die Welt kommen dürfen.
Dichtung, Erinnerung und Verlust
Die beiden Teile des Buches unterscheiden sich grundlegend in ihrem Ton, und doch sind beide auf ihre besondere Weise poetisch. Youssefs Teil ist durchzogen von modernen und alten irakischen Gedichten, von Abu Nuwas' Trinkliedern aus dem 8. Jahrhundert bis hin zu Al-Jawahiri, einem Dichter des 20. Jahrhunderts. Die Gedichte kommen von Youssef und seinem Zechbruder Saadoun.
Mahas Poesie besteht aus häufig sehr elegischen liturgischen Texten und Liedern von Fairuz. Auch die elegant eingeflochtenen Traditionen der syrisch-katholischen Kirche dienen zur Ausschmückung der Erzählung.
"The Baghdad Eucharist" ist die Geschichte einer Gemeinschaft am Abgrund, von Antoon in einem Moment der Fragilität und Bedrohung festgehalten. Beide Perspektiven auf den Irak - als eine gastfreundliche, vielgestaltige Nation bei Youssef, als ein beängstigendes, gefährliches Land bei Maha – erscheinen gleichberechtigt. Und doch fällt es schwer, Mahas Perspektive und Angst um die Zukunft der Gemeinschaft nicht zu übernehmen.
Marcia Lynx Qualey
© Qantara 2017
Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff