"Wir haben ein Recht auf Arbeit, Diebesbande!"
Seit dem 17. Dezember ist Tunesien Schauplatz von Unruhen, die in einer wirtschaftlich benachteiligten Region ausgebrochen sind und sich mittlerweile über das ganze Land in Form von Protestbewegungen ausgebreitet haben. Die Regierung ergreift die Flucht nach vorn – mittels Repressionen. "Ben Ali hat während seiner gesamten 23-jährigen Herrschaft die Regionen im Landesinneren vergessen.
Nun haben sich ihm die Vergessenen der Republik wieder ins Gedächtnis gerufen!" Mit diesen Worten kommentiert der Ökonom Abdeljelil Bedoui die Unruhen, die am 17. Dezember in Sidi Bouzid (im Zentrum Tunesiens) ausgebrochen sind, und fügt hinzu: "Diese Protestbewegungen wurden in einer Region aktiv, in der 32,3 Prozent der Arbeitslosen einen höheren Bildungsabschluss haben - ein landesweiter Rekord.
Die jüngere Generation erfährt gesellschaftliche Verachtung, wird von den Behörden gedemütigt und findet weder Gehör, noch einen Rahmen, um sich zu äußern", so Bedoui. Diese Region Tunesiens, die nun von einer Lawine des sozialen Protests erfasst wurde, wird von den Herrschenden bewußt totgeschwiegen, da sie ihr Land nach außen hin lieber als besonders leistungsstark preisen.
Dabei wird immer mehr ersichtlich, dass die idealisierende Darstellung Tunesiens "als Insel eines Wirtschaftswunders" und "Erfolgsmodell unter den Entwicklungsländern", unter der Schirmherrschaft eines "wohlwollenden Präsidenten" deutlichen Schaden nimmt. "Wir haben ein Recht auf Arbeit, Diebesbande!" - so lautet das Motto dieser Revolte, die sich mittlerweile lauffeuerartig über das ganze Land ausgebreitet hat. Dabei rückt das Thema Korruption, die im Umfeld von Präsident Ben Ali grassiert und inzwischen die gesamte Verwaltung erfasst hat, immer mehr in den Mittelpunkt des Volkszorns.
Der Fall Mohamed Bouazizi
Alles hatte mit der Verzweiflungstat eines diplomierten Arbeitslosen namens Mohamed Bouazizi begonnen, ein junger Mann, der am 17. Dezember einen Selbstmordversuch unternahm, indem er sich vor der regionalen Präfektur von Sidi Bouzid anzündete. Gut zwei Wochen nach dem Ausbruch der Unruhen ist der 26-jährige inzwischen an seinen schweren Verletzungen gestorben, was die Proteste nur noch weiter angefacht hat. Bouazizi übte einen prekären Job als fliegender Händler aus, um nicht die Zeit in den Cafés der Stadt tot schlagen und seiner Mutter einen Dinar (umgerechnet rund 50 Cent) entlocken zu müssen, um seinen Kaffee bezahlen zu können.
Die Polizisten versuchten von ihm Schutzgelder zu erpressen – wie von so vielen fliegenden Händlern in der Region. Wenn sie sich weigern wird in der Regel die Ware dieser Billig-Jobber kurzerhand zerstört. Mit einem Einkommen von rund 300 Dinar im Monat sind Tunesiens Polizisten selbst schlecht bezahlt. Sie kommen wirtschaftlich gerade so über die Runden, indem sie den Bürgern Geld abpressen.
Die polizeiinterne Hierarchie verleitet sie zu solchen Praktiken, um sie besser in der Hand zu haben. Es gibt keinen Raum für Befindlichkeiten mehr – oder gar für diejenigen, die dazu neigen, diese schmutzige Arbeit zu verweigern. Der Zynismus geht so weit, sie zu inhaftieren und administrativen Sanktionen auszusetzen bevor sie wieder eingesetzt werden, und zwar nachdem ihre Fügsamkeit sicher gestellt ist. So ermittelten Tunesiens Behörden zwischen 2009 und 2010 gegen 1.300 Polizeibeamte wegen Korruption und Machtmissbrauch.
Ein Polizeistaat mit kaum existierender Meinungsfreiheit
Doch die Bevölkerung nimmt das System ohnehin weitgehend als eines wahr, das auf Korruption auf höchstem Niveau basiert. Und das nicht ohne Grund: Eine von "Global Financial Integrity" (GFI) in Auftrag gegebene Studie hat aufgedeckt, dass sich die illegale Kapitalflucht in Tunesien auf nahezu 18 Milliarden Dollar beläuft. Und in den von WikiLeaks veröffentlichten Telegrammen über Tunesien, die aus der Feder des Botschafters Robert F. Godec stammen, kann man folgendes lesen: "Präsident Ben Ali ist überaltert, sein Regime ist verkrustet, und es gibt keinen eindeutigen Nachfolger.
Zahlreiche Tunesier sind, aufgrund der fehlenden politischen Freiheit, frustriert. Sie sind wütend auf die Präsidentenfamilie, die grassierende Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die regionalen Ungleichheiten. […] Tunesien ist ein Polizeistaat mit kaum existierender Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie anhaltenden schweren Menschenrechtsproblemen."
Nach Sidi Bouzid, Menzel Bouzayan, Mazzouna und Meknessi sind mittlerweile alle benachbarten Kommunen von den Protesten angesteckt worden und skandieren dieselben Parolen gegen die Tyrannei der Machthaber. Die offizielle Reaktion besteht in einer Flucht nach vorn: Ben Ali verspricht, "das Gesetz mit harter Hand durchzusetzen" und gibt Befehle, auf die wütende Menschenmenge zu schießen.
Dabei wurden bereits mehrere Jugendliche getötet und hunderte verletzt. Ein beträchtlicher Teil von ihnen kann nicht in Krankenhäuser transportiert werden, weil die Polizei die Städte eingekesselt und jeden Durchreiseverkehr untersagt hat. Die Verhaftungen der jungen Leute gehen in die Hunderte. Inzwischen wurde eine Ausgangssperre verhängt.
Solidaritätsbewegungen im ganzen Land
Seit über zwei Wochen formieren sich Solidaritätsbewegungen in allen Städten des Landes – ob in Jendouba, Le Kef, Feriana, Kairouan, Kasserine, Gafsa, Djerba, Sfax, Monastir, Sousse oder Tunis –, wobei es immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen mit den Ordnungskräften kommt, die versuchen, die friedlichen Demonstrationen gewaltsam aufzulösen oder niederzuschlagen. Journalisten werden an ihrer Berichterstattung gehindert. Wer versucht, seiner Arbeit nachzugehen, wird gewaltsam attackiert oder inhaftiert, berichtet die tunesische Sektion der Organisation "Reporter ohne Grenzen".
Am schwerwiegendsten war bislang der Angriff auf die tunesischen Anwälte. Am 31. Dezember sollten diese nach einem Aufruf der nationalen Anwaltskammer ("conseil national de l'Ordre") eine rote Armbinde als Zeichen der Solidarität tragen. Aber seit dem Morgengrauen wurden alle Gerichte des Landes von der Polizei belagert, die den Anwälten den Zugang zu ihren Arbeitsstätten verweigerte. Zahlreiche Anwälte wurden attackiert und verletzt. Ihre Roben wurden zerrissen, insbesondere in den Gerichten von Gafsa, Jendouba, Mahdia, Djerba, Monastir, Sousse und Sfax.
Vor allem in der Hauptstadt Tunis wurden zahlreiche Anwälte verletzt. Die Anwaltskammer hatte als Reaktion auf die Aggression der Polizeikräfte, die in einigen Fällen in den Gerichtsgebäuden eskalierte, zu einem Streiktag am 6. Januar aufgerufen. Und auch der regionale Gewerkschaftsverband von Sidi Bouzid hat inzwischen für den 12. Januar zum Generalstreik ausgerufen. Da die Polizei auch Proteste seitens der Studenten und Gymnasiasten fürchtete, ging sie "präventiv" mit Gewalt gegen sie vor – zu einem Zeitpunkt, als diese jungen Menschen gerade aus ihren Ferien zurück kamen.
Dies führte zu Ausschreitungen in mehreren Städten wie Ben Guerdan, Kasserine, Gabes, Gafsa, Chebba et Thala, wo der Sitz der Regierungspartei in Brand gesteckt wurde. Eines ist schon jetzt sicher: Mit einer rein repressiven Strategie, wie sie politische Führung verfolgt, wird die Wut des Volkes gewiss nicht abklingen.
Die Europäische Union, die gerade dabei ist, einen fortgeschrittenen Partnerstatus mit Tunesien auszuhandeln, hüllt sich in beunruhigendes Schweigen. Am 3. Januar lancierte das euro-mediterrane Netzwerk zu Menschenrechten (REMDH) einen Aufruf an die EU, "öffentlich Stellung zu nehmen zu den schweren Menschenrechtsverletzungen in Tunesien im Zusammenhang mit der Niederschlagung der Demonstrationen zur Unterstützung der Menschen von Sidi Bouzid".
Sihem Bensedrine
© Qantara.de 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Übersetzt aus dem Französisch: Dr. Ursula Günther Die Journalistin und Autorin Sihem Bensedrine engagiert sich seit langem in der in Tunesien offiziell nicht anerkannten Menschen- und Frauenrechtsbewegung. 1999 gab sie die Oppositionszeitung "Kalima" (Stimme) heraus, die kurz darauf verboten wurde. Nach ihren Enthüllungen über Folter und Korruption unter Ben Ali wurde sie 2001 zwischenzeitlich inhaftiert. 2002 erhielt sie den Johann-Philipp-Palm-Preis für Presse- und Medienfreiheit.