Die Weltliteraturen des Orients
Wann immer heute der auf Goethe zurückgehende Begriff "Weltliteratur" bemüht wird, ist in der Regel Westliteratur gemeint. Man werfe einen Blick auf all die Bestenlisten und Kanons, auf das, was im großen Feuilleton besprochen und als „Weltliteratur“ gelabeled wird – Literatur, die nicht aus dem europäischen oder anglo-amerikanischen Raum stammt, muss man mit der Lupe suchen.
Doch was wäre die Weltliteratur ohne Ibn Arabi, ohne Hafis, ohne Yunus Emre? Und was wäre sie heute ohne große Erzählerinnen und Erzähler wie Bachtyar Ali, Mahmoud Doulatabadi oder Aslı Erdoğan? Sie wäre ärmer, unvollständig – weil ihr die östliche Perspektive fehlte. Eine Perspektive, die tatsächlich eine viel zu untergeordnete Rolle spielt, und das obwohl vergleichsweise viel aus dem Arabischen, Persischen und Türkischen in deutscher Übersetzung vorliegt.
Die literarische Lücke schließen
Mit "1001 Buch. Die Literaturen des Orients" setzt der Islamwissenschaftler und Publizist Stefan Weidner dazu an, diese Lücke zu füllen. Eine Einführung in die Literatur der – im weitesten Sinne – islamisch geprägten Länder will er damit geben, und er will eine Einladung aussprechen, sich diesen Literaturen zu nähern. Warum? Weil sie uns etwas zu sagen haben, weil sie uns angehen.
"Wer Bücher liest, schaut in die Welt und nicht nur bis zum Zaune", sagte Goethe, dessen West-östlicher Divan dieser Tage wieder ausgiebig gefeiert wird. Es ist eben jener Blick über den Tellerrand der literarischen "Okzidentierung", wie Sigrid Löffler es nannte, den Stefan Weidner in seinem Buch so einsichts- wie kenntnisreich zelebriert. Er beginnt mit dem Koran und arbeitet sich ins Heute vor – und natürlich geht es dabei auch um Goethes lyrisches Denkmal für den persischen Klassiker Hafis. Dabei ist der Ausgangspunkt offenbar eher betrüblich.
"Dank Goethe ist der Name Hafis jedem Gebildeten vertraut", schreibt Stefan Weidner. "Aber man liest ihn nicht. Statt ihn und andere orientalische Dichter tatsächlich zu lesen (oder gar zu studieren!) hat eine Pseudo-Rezeption eingesetzt, die Goethes Bemühungen um den Orient als Feigenblatt vor das Desinteresse legt."
Goethe sei "mit seinem Divan zum Schutzherren für einen west-östlichen Versöhnungsaktionismus mutiert, mit dem die Arroganz des Nicht-Lesens nicht minder als die politische Arroganz kompensiert werden soll". Umgekehrt, so stellt er fest, sei es aber nicht viel anders. Auch im Orient werde Goethe zwar gerne beschworen und verklärt aber kaum gelesen.
Der interkulturelle Austausch, wie soll er funktionieren, wenn man sich nicht gegenseitig liest? Zwar liegen zahlreiche orientalische Klassiker auf Deutsch vor – Übersetzungen zeitgenössischer Literatur aus dem Orient erscheinen aber vorwiegend in kleinen Verlagen, sieht man einmal von Ausnahmen wie Orhan Pamuk oder dem bereits erwähnten iranischen Romancier Mahmoud Doulatabadi und einer Handvoll weiterer Namen ab.
Und was in Kleinverlagen erscheint, hat es schwer im Feuilleton, in den Buchhandlungen und folglich auch bei den Leserinnen und Lesern. Für jene, die sich nicht ohnehin schon mit diesen Literaturen befassen, ist es dadurch umso schwerer, einen Überblick zu erhalten – was sich mit Weidners Buch ändern soll.
Europäische Orient-Romantisierungen
Doch bevor er in diese Reise durch östliche Bibliotheken einsteigt, thematisiert er auch für jene, die nicht darüber gestolpert sind, wie problematisch der Begriff "Orient" spätestens seit Edward Said ist und rückt damit den Titel des eigenen Buches samt der nicht minder problematischen Anspielung auf Tausend und eine Nacht – ein Werk, das im neunzehnten Jahrhundert Anlass für eine so heillose wie realitätsfremde Orient-Romantisierung in Europa war – ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Ein Kniff, mit dem es ihm gelingt, die Mehrheit der Leserinnen und Leser dort abzuholen, wo sie stehen, um ihnen sofort ein kritisches Hinterfragen der eigenen Perspektive nahezulegen: Das Grundwerkzeug als Voraussetzung zum Umgang mit nichtwestlicher Literatur generell.
Auf 430 Seiten flaniert Weidner durch Bücher und Biografien, durch Geschichte und Geschichten. Der hierzulande marginalisierten Lyrik räumt er viel Raum ein, ist sie doch noch immer die wichtigste literarische Kunstform in den Ländern jenseits des Westens – erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich dort langsam die Erzählprosa, nachdem Dichterinnen und Dichter Europa bereist hatten.
Und auch den Schwierigkeiten der Übersetzung widmet er sich und gibt dabei zugleich einen Einblick in die immer wieder für Verwirrung sorgenden Auslegungsfragen des Korans, die innerhalb der islamischen Welt, auch wenn es im "Westen" manch einer kaum glauben mag, ständiger Anlass kontroverser Debatten längst nicht nur in Theologenkreisen sind.
Eingebunden in soziokulturelle und politisch-historische Kontexte
Apropos Übersetzung: Mit seiner eigenen Übertragung der Verse des andalusischen Dichters Ibn Arabi darf man Weidner in der Tradition von Hammer-Purgstall und Rückert sehen – er ist einer, der Literatur vermitteln will, gegen alle Widerstände.
Und das gelingt ihm mit "1001 Buch" immer wieder. Egal ob in kurzen Rezensionen oder ausführlichen Betrachtungen macht er Lust auf Bücher und nimmt ihnen den Anschein des Fremden, zeigt auf, welch interessante und lesenswerte Welten sich eröffnen können, wenn man weiter schaut "als bis zum Zaune". Das Große Ganze verliert er dabei nicht aus dem Blick, flicht Anekdoten und persönliche Begegnungen mit Autoren ein, stellt ihr Werk in soziokulturelle und politisch-historische Kontexte.
Umfassend ist das Werk allerdings nicht, kann und will es gar nicht sein. Etwa drei Viertel des Buches befassen sich mit Weidners Kerngebiet, der arabischen Literatur, die persische und die türkische Literatur werden wesentlich kürzer behandelt, und gerade hier tun sich einige Lücken auf. Während beispielsweise Yaşar Kemal nur recht oberflächlich behandelt wird, kommt ein Gigant wie Oğuz Atay mit seinem Jahrhundertroman "Die Haltlosen" gar nicht vor; während der Teheraner Autor Amir Hassan Cheheltan viele Seiten füllt, vermisst man doch eine herausragende Autorin wie die ebenfalls in Teheran lebende Fariba Vafi.
Doch man ist geneigt, ihm diese Lücken zu verzeihen, regt er doch ausdrücklich auch dazu an, sich selbst – nun gut gerüstet – auf Spurensuche zu begeben. Und so ist "1001 Buch" nicht nur ein optimaler Einstieg für all jene, die sich neue literarische Welten erschließen möchten, sondern auch eine Fundgrube für jene, die mit den "Literaturen des Orients" bereits vertraut sind – gerade was die Hinweise auf Publikationen in Klein- und Kleinstverlagen betrifft.
Gerrit Wustmann
© Qantara.de 2019
Stefan Weidner: 1001 Buch – Die Literaturen des Orients, Edition Converso 2019, 430 Seiten, ISBN: 978-3-9819763-3-5