Eine Oase für kleine Überlebenskünstler
Auf dem Flohmarkt hat der Gastronom Majid Sahoul einen silberfarbenen Kindermofahelm gekauft. Endlich darf der fünfjährige Abdelrahman mit auf eine kleine Spritztour. Großes Geschrei. Nein, wie ein Pferd wiehert er. Warum das? Weil er gerne eines sein würde! Er wird nun außerdem viel Gemüse und Salat essen – in der Hoffnung, dass ihm Flügel aus den Schultern wachsen.
Diese kleine Pegasus-Fantasie stammt aus dem südmarokkanischen Marrakesch. Der kleine Abdelrahman mit dem fleckigen weißen Jackett und dem hängenden Lid über dem linken Auge ist eines der Straßenkinder, die Tag für Tag im Restaurant Sésame Garden, nahe des weltberühmten Platzes Jemaa El Fna, Station machen. Es sind jene Kinder, die, wenn sie betteln oder Taschentücher verkaufen wollen, von den unzähligen Touristen der Stadt so oft mit einer jener Gesten, mit denen man auch Fliegen verscheucht, weggeschickt werden.
"Es sind eher die Einheimischen, die uns Geld geben, die Touristen verstehen unsere Situation nicht", meint die neunjährige Merieme. Das zarte Mädchen lebt mit ihrer Mutter und vier Geschwistern wie viele ihrer kleinen Kolleginnen und Kollegen in einem winzigen Verschlag in einem Hinterhof der eigentlich so märchenhaften Medina von Marrakesch. 60 Dirham, umgerechnet sechs Euro, kostet schon allein die tägliche Miete. Wer fünf Tage lang nicht zahlt, kann ganz auf der Straße landen. Dafür, sowie für Kleidung und Lebensmittel, fühlen sich die Kinder verantwortlich.
Tag für Tag, im Sommer bei 45 Grad im Schatten oder auch in den zugigen und kalten Winternächten ziehen sie auf den sagenumwobenen Platz, verkaufen Taschentücher, Luftballons oder bis spät in die Nacht Blumen vor den außerhalb der Medina liegenden Clubs und Casinos.
Verspottet als "Clochard vom Jemaa El Fna"
Die Schule kommt dabei oft zu kurz. Und wenn sie doch den Versuch unternommen habe, hinzugehen, erzählt die schüchterne Merieme mit ihrer leisen Stimme, sei sie oft von der Lehrerin vor der Klasse als "Clochard vom Jemaa El Fna" bloßgestellt worden. Nun besucht sie so oft wie möglich, eine Schule für sozial benachteiligte Kinder, in der nur halbtags unterrichtet wird. Ihre neue Lehrerin sei ganz anders, schwärmt das Kind.
Majid Sahoul bringt ihr ein Glas Milch aus seiner Restaurantküche und nickt. Auch er ist erleichtert über den guten Kontakt, den die Lehrerin zu den Kindern sucht. Selbst auf der Terrasse des Restaurants sei sie schon zu Besuch gewesen. Einige Kinder hat er wiederum persönlich zum Unterricht angemeldet.
Drei durstige Jungs haben vor einiger Zeit das Leben des Gastronoms grundlegend verändert. Sie baten um ein Glas Wasser, und weil ihre Bitte nicht abgeschlagen wurde, kamen sie wieder. So entstanden Gespräche und kleine Spiele mit den immer zahlreicher werdenden Kindern. "Aber wie passen ein Restaurant und diese kleinen Wesen, die nie eine warme Mahlzeit zu sich nehmen, zusammen?", fragte sich Majid Sahoul. Daraufhin habe er angefangen, jeden Freitag einen kostenlosen Couscous für die Kinder anzubieten.
Inzwischen gibt es allabendlich die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Mahlzeit im Restaurant. Auch tagsüber ist die Terrasse für die kleinen Überlebenskünstler geöffnet. Sie haben dort ihre Spieltruhe mit Bällen und Stiften, einen Teppich zum Turnen, Aufgaben- und Rätselhefte. Manchmal kommen Freiwillige, um dem Paten von bis zu 100 Kindern beim Nachmittagsprogramm zu unterstützen.
Ein Restaurant als kleines Wunder
Sahoul besitzt eine große natürliche Autorität, aber er ist weder Pädagoge noch Sozialarbeiter. Die Probleme der Kinder sind eine große Herausforderung für ihn. Manchmal kämpft er beim Erzählen mit den Tränen, auch über die eigenen Fehler. Zuweilen sieht er bei Streitereien keine andere Lösung, als vorübergehende Hausverbote zu erteilen. Die Kinder respektieren das, obwohl es für sie keinen besseren Ort als das Sésame Garden gibt. Zehnmal, zählt Merieme an ihren schmalen Fingern ab, verbrachte sie schon im Tagesgewahrsam der Polizei. Dabei haben sich die Kinder nichts zu schulden kommen lassen. Oft kommen sie in Tagesgewahrsam, damit sie für die Touristen nicht das Stadtbild trüben. Der beste Tag in Meriemes Leben war der, an dem sie zu Majid kam.
Für die Kinder ist das Sésame Garden offensichtlich ein kleines Wunder. Was sie nicht wissen: Trotz seiner beeindruckenden Dachterrasse und der Live-Musik am Abend ist das Restaurant kein Marketingwunder. Die Mieten in Marrakeschs Zentrum sind mit denen in den teuersten Großstädten weltweit vergleichbar.
Termine bei der Stadtverwaltung, um zu besprechen, wie der inzwischen für die Kinder gegründete Verein besser unterstützt werden könne, verliefen bislang erfolglos. Sozialhilfe gehört in Marokko wie in anderen islamischen Ländern zum Teil der religiösen Pflichten. Wo sie nicht greifen, tragen unterfinanzierten und teils unorganisierten Hilfsorganisationen unzureichend Sorge. Eine Krankenversicherung ist Luxus. Auch Arztbesuche übernimmt der Gastronom daher zuweilen. Den Gips am Arm der elfjährigen Ikram hat er allerdings aus Kostengründen persönlich aufgesägt, so erinnert sich das Mädchen kichernd.
Entrechtete Frauen
Viele Mütter der Kinder sind schlicht nicht mehr in der Lage, ihre Fürsorgerolle wahrzunehmen. Viele sind zudem auf Medikamente angewiesen, und sei es nur um sich zu betäuben. Ein Mädchen, das sich nach mehrmaligem Bitten bereit erklärt, gemeinsam die Mutter aufzusuchen, bleibt schließlich vor einer liegenden Frau stehen, die weder auf Zurufe noch auf Berührungen reagiert.
Frauen, die ohne Männer leben – entweder weil sie vergewaltigt oder sitzengelassen wurden, oder auch weil die Partner gestorben sind –, haben in der patriarchalen, frauenfeindlichen Gesellschaft kaum eine Chance, bestätigt Frauenrechtlerin Halima Oulami, die in Marrakesch ohne jede staatliche Unterstützung das erste Frauenhaus aufgemacht hat.
Selbst wenn die Frauen einen Putzjob oder ähnliches finden, werden sie als praktisch Rechtlose behandelt. Vergewaltigungen oder ausbleibende Löhne gehören zum Alltag. Wieviel sie verdiene, wird eine der Mütter bei einem weiteren Besuch gefragt, was in der Gruppe mit einem lautstarken und bitteren Lachen quittiert wird: "Sind Sie noch recht bei Trost, Madame?! Haben Sie etwa 'verdienen' gesagt?", erwidert eine Frau, die unter Herzproblemen leidet.
Es ist spät am Abend, einige der größeren und kleineren Kinder lauschen dem hitzigen Gespräch, und schmiegen sich dabei so eng wie möglich an die Besucher an. Körperkontakte sind auch auf der Terrasse des Sésame Garden von großer Wichtigkeit. Majid Sahoul kann sich kaum jemals ohne Anhang bewegen. Bei einem der Sonntagsausflüge, die er mit "seinen Kindern" unternimmt, geht es in die Menara-Gärten, einen riesigen Olivenhain, mitten in Marrakesch. Drei Erwachsene sind dabei, und jede freie Hand, jeder freie Zipfel der Begleitpersonen wird genutzt, um sich einzuhaken und Nähe zu zeigen.
Vorbei am Hotel des "Königs der Armen"
Nach einem Picknick, vielen Purzelbäumen, Flic-Flacs und wilden Tänzen geht es am Hotel Mamounia vorbei zurück in die Medina. Das Mamounia ist das Königshotel in Marrakesch, und die Kinder stimmen spontan ein Loblied auf Mohammed VI an, den selbsternannten "König der Armen". Es gleicht einer Demonstration, aber die Ironie davon verstehen nur Majid Sahoul und die Livrierten, die gerade versuchen, ihre schwerreiche Kundschaft in Limousinen zu verfrachten.
Auf dem Platz Jeema El Fna steigt inzwischen schon der allabendliche Dampf der Garküchen auf, die Trommeln stimmen den hohen Puls der Nacht ein – der Orient, wie ihn die Touristen eben lieben. Sahoul ist erschöpft, und doch steht ihm noch eine lange Arbeitsnacht im Restaurant bevor. Wie bewältigt er all diese Aufgaben neben dem Managementstress für das Restaurant? "Wenn du die Kinder kennenlernst, lernst du sie auch lieben", ist seine Antwort.
Dann teilt Sahoul noch die Pakete mit Taschentüchern aus; und auch für die Kinder geht der Alltag weiter. Merieme, die fünfjährige taubstumme Saana, der kleine Abdelrahman, die wunderbare Sängerin Ikram und all die anderen werden bis spät in die Nacht arbeiten gehen. Wenn es sehr gut läuft, verdienen sie dann noch 20 bis 30 Dirham, umgerechnet zwei bis drei Euro, die halbe Tagesmiete.
Astrid Kaminski
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de