Der Mann der verpassten Chancen
Bashar al-Assad ist kein Typ für die erste Reihe, kein Mann der vordersten Front. Im Vergleich zu ehemaligen Amtskollegen wirkt sein Auftreten zurückhaltend, fast schüchtern und unsicher. Die selbstgefällige Geste eines Hosni Mubarak ist ihm ebenso fremd wie die inszenierte Selbstverherrlichung eines Muammar al-Gaddafi oder das diktatorische Gepolter eines Saddam Hussein.
Nein, Bashar ist nicht als Machtmensch geboren, er musste in die Rolle des Staatspräsidenten erst hineinwachsen. Dabei erwiesen sich die Fußstapfen, die sein Vater Hafiz al-Assad ihm hinterließ, als zu groß, Bashar erfüllt die Rolle des Autokraten mehr schlecht als recht. Für das syrische Volk brachte diese präsidiale Fehlbesetzung zunächst Hoffnung, dann Enttäuschung, jetzt bringt sie vor allem Leid.
Als Bashar al-Assad, der Augenarzt, der in Damaskus studiert und einen Teil seiner beruflichen Ausbildung in London absolvierte, im Sommer 2000 die Macht in Syrien übernimmt, ist er gerade mal 34 Jahre alt. Nach dem Tod seines als Nachfolger vorgesehenen älteren Bruders Basil absolviert Bashar ab 1994 eine Militärkarriere im Schnelldurchlauf und wird von seinem Vater auf das Präsidentenamt vorbereitet.
Sein eigentliches Interesse aber gilt Computer und Internet. 1989 zählt er zu den Mitbegründern der Syrian Computer Society, die sich für die Verbreitung von Informationstechnik einsetzt und sich später zur Kaderschmiede für ambitionierte Nachwuchspolitiker entwickelt.
Der Anfang ist schwer. Im Jahr 2000 wirkt Syrien wie ein Relikt aus dem Kalten Krieg: nach außen abgeschottet, in arabisch-nationalistischen Parolen gefangen, von sozialistisch-planwirtschaftlichen Strukturen gelähmt. Das Land droht den Anschluss an die Moderne zu verpassen, deshalb setzt Bashar auf technologischen Fortschritt, wirtschaftliche Öffnung, Erneuerung der Infrastruktur.
Geld auf Banken statt unter die Matratze
Er macht das World Wide Web für die breite Bevölkerung zugänglich, Internetcafés boomen, Satellitenfernsehen wird offiziell erlaubt, neue Zeitungen entstehen. Tiefgreifende politische Veränderungen stehen dagegen nicht auf Assads Agenda – er versteht sich als Modernisierer, nicht als Reformer.
Die Syrer sollen lernen, ihr Geld auf Banken statt unter der Matratze zu lagern, eine Wartenummer zu ziehen statt sich vor dem Schalter zu drängeln, sicher Rolltreppe zu fahren und Geldautomaten zu bedienen. Die Vorherrschaft der Baathpartei in Frage zu stellen oder die Macht der Assads anzuzweifeln, bleiben jedoch Tabus.
So gesehen beruht der "Damaszener Frühling", eine Phase der öffentlichen Debatten und des politischen Erwachens im Jahr 2001, auf einem Missverständnis. Bashar al-Assad ermutigt die Syrer zwar in seiner Antrittsrede, sich aktiv an einer Neugestaltung Syriens zu beteiligen, vergisst dabei aber, die roten Linien zu umreißen. Als sich die Intellektuellen des Landes dann in geräumigen Privatwohnungen treffen, um über die Zukunft zu diskutieren, müssen sie selbst die Grenzen der neuen Redefreiheit austesten.
Während manchmal mehr als 100 Leute leidenschaftlich über Korruption, Demokratie und Pluralismus streiten, sitzen die Jungs vom mukhabarat, dem syrischen Geheimdienst, in ihren schwarzen Lederjacken dabei und schreiben Berichte. Doch irgendwann lässt sich niemand mehr von ihnen stören – das ist der Moment, in dem es für die Machthaber gefährlich wird.
Bevor der Damaszener Frühling richtig aufblühen kann, wird er im Keim erstickt. Die führenden Köpfe jener Zeit landen im Gefängnis, die Debattierclubs werden verboten, die Geheimdienste bringen das öffentliche Leben wieder unter ihre Kontrolle. Bashar al-Assad entscheidet sich zum ersten Mal gegen einen politischen Neubeginn und für den persönlichen Machterhalt.
Guter Bulle, böser Bulle
Rückblickend werden im Winter 2001/2002 die Weichen für den Umgang mit der aktuellen Krise gelegt. Denn schon damals überlässt es Assad dem Sicherheitsapparat, mit der Bedrohung fertig zu werden. Die Arbeitsteilung innerhalb der familiären Führungsriege – der Präsident als freundliches Gesicht nach außen, sein Bruder Maher und sein Schwager Asef Schaukat als Verantwortliche für Stabilität im Inneren und Cousin Rami Makhlouf als Garant für die finanzielle Absicherung des Clans – erweist sich über Jahre als effizient.
Bashar al-Assad spricht von Reformen, Bruder und Schwager sperren Regimegegner weg, Cousin Rami kontrolliert die Wirtschaftselite – die Rollen sind perfekt verteilt.
Das Argument, Assad habe anfangs unter dem Einfluss langjähriger mächtiger Weggefährten seines Vaters, der sogenannten "alten Garde" gestanden, und nicht anders handeln können, stimmt nur zum Teil. Denn auch nachdem er diese im Laufe der ersten Jahre abgeschüttelt und durch gleichgesinnte loyale Technokraten ersetzt hat, bleibt die ersehnte politische Öffnung des Landes aus. Kann oder will Bashar al-Assad nicht, wird unter Syrien-Kennern zur meist diskutierten Frage.
Inzwischen fällt die Antwort leichter: Hätte Bashar wirklich gewollt, hätte er theoretisch gekonnt. Praktisch steht ihm sein Charakter im Weg. Denn für echte Veränderungen müsste er den Einfluss des Militärs und der Geheimdienste beschneiden, die jedoch in dem von seinem Vater angelegten System die Stützen seiner eigenen Macht und zugleich seine einzige Legitimation sind.
Er hätte sich beizeiten vom Volk legitimieren lassen müssen, um dann seine Familie und sonstige Profiteure des Systems konfrontieren zu können. Ein Weg, den Bashar womöglich politisch nicht überlebt hätte, und der deshalb auch noch die Bereitschaft zum persönlichen Machtverlust erforderlich machte.
Kurzum: Für einen geordneten, unblutigen Übergang zur Demokratie in Syrien hätte es den Mut, die Weitsicht und die persönliche Größe eines Gorbatschow gebraucht – Eigenschaften, über die Bashar al-Assad nicht verfügt.
Verschiedene Chancen, das Blatt zu wenden, verstreichen deshalb ungenutzt. Fünfmal bietet sich Bashar die Möglichkeit zum Kurswechsel. Das erste Mal im Rahmen des erwähnten Damaszener Frühlings, wobei die Aussicht auf eine politische Neuordnung im Jahr 2001 wegen Bashars Unerfahrenheit und seiner geringen Machtbasis denkbar schlecht ist.
Hätte er die politischen Diskussionen in der Gesellschaft damals weiterlaufen lassen, wäre der Sicherheitsapparat wahrscheinlich von alleine eingeschritten und hätte Bashar kurzerhand durch eine "zuverlässigere" Figur ersetzt.
Reformprojekte verlaufen im Sand
Vier Jahre später sieht die Lage anders aus. Bashar al-Assad hat die Spitzen in Militär und Geheimdienst mit eigenen Leuten besetzt und bringt nun, im Juni 2005, auch die Führung der Baathpartei hinter sich. Ihr erster Kongress unter Bashar endet mit der vagen Aussicht auf politische Öffnung, dem Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft und einer Kampfansage an die Korruption. Die Macht der Geheimdienste wird erstmals eingeschränkt, Syrer brauchen zur Eröffnung von Restaurants, Reisebüros oder Läden keine Genehmigung des Sicherheitsapparates mehr.
Aus einem angekündigten neuen Parteiengesetz und der Einbürgerung staatenloser Kurden wird jedoch nichts, Reformprojekte verlaufen im Sand und schnell wird klar, dass die minimalen Veränderungen nur dem Machterhalt und dem politischen Überleben der Baathpartei dienen. Die zweite Chance ist verpasst.
2007 dann stehen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an und Syrien verfällt in einen nationalen Taumel. Bashar-Bilder verdecken ganze Gebäudefassaden, "Wir lieben dich"- Plakate zieren Bushaltestellen, Lobeshymnen auf Assad dröhnen aus dem Radio. Die Syrer feiern ihren Präsidenten so als wollten sie dem Ausland etwas beweisen.
Die Entwicklungen in der Region – US-amerikanische Truppen und Bürgerkrieg im Irak, der Rückzug der syrischen Armee aus dem Libanon 2005, die Anschuldigungen gegen Syrien im Zusammenhang mit dem Anschlag auf Libanons Ex-Premier Hariri und die israelischen Angriffe auf den Libanon im Sommer 2006 - schweißen die Syrer zusammen. Erst recht angesichts der Drohgebärden aus Washington und der Isolationspolitik der Europäer.
Vorkämpfer arabischer Interessen
Nie zuvor und nie wieder danach stehen die Syrer so geeint hinter ihrem Präsidenten. Bashar ist über die Grenzen Syriens hinaus zu einem Vorkämpfer arabischer Interessen aufgestiegen, der Israel und dem Westen als einer von wenigen noch Paroli bietet. Er hat die Herzen der arabischen Massen gewonnen. Der perfekte Moment, um sich in freien Wahlen demokratisch legitimieren zu lassen. Doch wieder fehlt Bashar der Mut. Seine zweite Amtszeit beginnt im Juli 2007 wie die erste, mit einem Referendum ohne Gegenkandidaten. Dritte Chance verpasst.
Ein Jahr später ist Bashar al-Assad zurück auf dem westlichen Parkett. Frankreichs Präsident Sarkozy holt ihn im Juli 2008 zur Konferenz der Mittelmeerunion nach Paris, damit wird Assad für die EU von der persona non grata zum gefragten Gesprächspartner.
Europäische Regierungschefs und Außenminister geben sich in Damaskus die Klinke in die Hand in der Überzeugung, Syrien in die Lösung der Konflikte im Nahen Osten mit einbeziehen zu müssen. Das Argument, Druck von außen verhindere Reformen im Innern, ist damit hinfällig geworden. International gefestigt könnte Bashar al-Assad zuhause nun endlich mehr Demokratie wagen, doch auch diese vierte Chance nimmt er nicht wahr.
Über seine fünfte und letzte Chance ist viel geschrieben worden. Bashar hätte den aktuellen Protesten von Anfang an mit durchgreifenden Reformen den Wind aus den Segeln nehmen können. Er hätte sich an die Spitze eines demokratischen Wandels stellen und frühzeitig das Gespräch mit den Demonstranten suchen können statt auf sie schießen zu lassen.
Doch wie schon beim ersten Damaszener Frühling entscheidet er sich auch bei diesem zweiten gesamtsyrischen Frühling für die brutale Niederschlagung der Demokratiebewegung. Damit hat Assad im Laufe von elf Jahren fünf Chancen verspielt. Mindestens eine zu viel, um jetzt glaubhaft für Dialog werben zu können.
Kristin Helberg
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de