Exodus ins Ungewisse
Shefat ist eine resolute Frau und spricht mit lauter Stimme. "Wir leben auf einem Friedhof", schreit sie ihren Frust heraus. "In ganz Syrien sterben die Leute!"
Vor zwei Tagen erst kam die 34-Jährige mit ihrer Familie aus einem Dorf in der Nähe von Homs, wo sie und ihr Mann auf einem Bauernhof gearbeitet haben. Nachdem ihr Mann aufgrund des Besuches der Uno-Blauhelme in die Stadt ging und an den Demonstrationen teilnahm, war die Familie sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Ihre Nichte wurde erschossen, ihre Schwester schwer verletzt. Der Bauer, ihr Arbeitgeber, brachte sie schließlich mit seinem Pick-up an die irakische Grenze.
Ihr Bruder Omar leistete seinen Wehrdienst in der syrischen Armee und war in Qamischli eingesetzt. Als er hörte, dass seine Schwester Richtung Irak unterwegs sei, verließ er die Truppe und ging mit. "Wir sind doch Kurden", erklärt Shefat, "und sie wollten, dass er auf Kurden schießt."
Qamischli liegt im äußersten Nordosten Syriens, im Dreiländereck zur Türkei und dem Irak. Dort leben die meisten der geschätzten drei Millionen Kurden Syriens. Es gibt Berichte, wonach die syrischen Soldaten auf Flüchtlinge schießen, die in die Türkei wollen. Omar kann dies nicht bestätigen, hat aber auch davon gehört. Seit Jahren leisten die Kurden erbitterten Widerstand gegen das Assad-Regime. 1986 und 2004 kam es in Syrien zu Aufständen und Unruhen.
Mehrere Kilometer vor der Grenze hatte der Pick-up die Familie abgesetzt und sie mussten zu Fuß weiter. "Wir haben alles zurückgelassen", seufzt Shefat, "nur das, was wir anhatten und tragen konnten, nahmen wir mit." 75.000 syrische Pfund (etwa 930 Euro) mussten sie an einen Schlepper zahlen. Sechs Stunden lang liefen sie durch die Dunkelheit, bis sie die irakische Grenze erreichten.
"Ich habe keine Angst mehr"
In Rabia, im äußersten Nordwesten Iraks, wiesen ihnen irakisch-kurdische Grenzsoldaten den Weg in die Flüchtlingslager: das bedeutete nochmals 140 Kilometer bis zu den sicheren kurdischen Autonomiegebieten in den Provinzen Dohuk und Erbil. Jetzt sitzen Shefat und Omar im Verwaltungscontainer eines Camps außerhalb von Dohuk und erzählen der ganzen Welt, wie schlecht es den Menschen in Syrien geht.
"Ich habe keine Angst mehr", sagt Shefat, "Sie können ruhig Fotos machen." Manche wollten nicht über ihre Geschichte reden, stehen unter Schock und sind traumatisiert von ihren Erlebnissen. Andere haben noch enge Familienmitglieder in Syrien und fürchten um deren Leben, wenn die Flucht an die Öffentlichkeit gerät. "Die Regierung sieht das noch immer als Landesverrat an", erklärt Shefat die Ablehnung gegenüber den Medien.
Als Flüchtling stünde auch ihr Mann nun auf der schwarzen Liste und würde sofort erschossen, wenn er wieder syrischen Boden beträte. Shefats Ehemann hält sich im Hintergrund und nickt nur kurz. Allerdings sind mittlerweile so viele Menschen vor der Gewalt des Regimes geflohen, dass es fraglich ist, ob diese Listen noch lange existieren werden.
Allein in der Türkei sind nach offiziellen Angaben bereits rund 35.000 Syrer untergekommen. In Irak-Kurdistan, wo gerade erst der Flüchtlingsstrom beginnt, sind schon knapp 4.000 Syrer, in Jordanien sind es 11.000. Auch im Libanon dürften etliche Tausend untergekommen sein. Offizielle Zahlen gibt es von dort jedoch nicht.
Entrechtet und isoliert
"Vor allem uns Kurden geht es schlecht, wir haben keine Rechte." Shefat sagt, dass gut die Hälfte der syrischen Kurden keine Ausweise hätten. Auch sie und ihre Familie hätten keine Identitätsnachweise. Deshalb könnten sie auch nicht in andere Länder ausreisen, seien auf die Gnade von Kurdenpräsident Mazud Barzani angewiesen. Dieser hatte kürzlich verfügt, dass alle syrischen Kurden, die vor Assads Terror fliehen, im Irak aufgenommen würden. Vordem haben irakische Grenzsoldaten Flüchtlinge aus Syrien wieder zurückgeschickt.
Die Politik Iraks gegenüber Syrien ist äußerst widersprüchlich. Während die Regierung in Bagdad, allen voran Premierminister Nuri al-Maliki, Baschar al-Assad unterstützt und Öl, Geld und Waffen nach Damaskus schickt, hat sich die kurdische Regionalregierung in Erbil auf die Seite ihrer "syrischen Brüder" gestellt, die in Opposition zum Regime stehen.
Denn der Versuch Assads, die Kurden zu beruhigen, kam zu spät, als er Anfang des Jahres versprach, dass denjenigen, die noch keine Pässe hätten, die syrische Staatsbürgerschaft zuerkannt würde und sie Ausweise erhalten könnten. "Doch dies waren nur schöne Worte", klagt Shefat, "wie so oft."
Die Rebellion gegen ihn und sein Regime war auch damit nicht mehr aufzuhalten. Lange Jahre hatte das Assad-Regime die Existenz der Kurden, die die größte Minderheit in Syrien darstellen, schlichtweg geleugnet. Diejenigen, die dies nicht akzeptieren wollten, landeten im Knast oder gingen ins Exil.
Kurdische Traditionen und die Ausübung der Sprache waren offiziell verboten. Jedem Versuch, das kurdische Neujahrsfest Newroz zu feiern, wurde mit brutaler Härte durch die gefürchteten Spezialkräfte der Staatssicherheit begegnet.
Gemeinsam gegen Assad
Mittlerweile hat das Oppositionsbündnis "Syrischer Nationalrat" (SNC) einen Kurden zum neuen Vorsitzenden gewählt. Abdel Baset Seida, der in Schweden im Exil lebt, soll die zerstrittenen Gruppen und Parteien einen, um eine gemeinsame Strategie im Kampf gegen die Regierung in Damaskus zu entwickeln.
"Syrien ist mein Land, meine Heimat, meine Identität", sagt Shefat verzweifelt. Doch erst wenn Assad gestürzt sei, gäbe es für sie eine Chance zurückzukehren. Bis dahin wird sie wohl im Lager Dohuk bleiben müssen, wo inzwischen rund 5.000 Flüchtlinge angekommen sind – und täglich werden es mehr.
Ein Pick-up bringt frisches Brot und Käse. Decken und Matratzen werden ebenfalls angeliefert. "Noch kommen wir mit der Situation klar", sagt Zadula, der Verwaltungsleiter. Er habe genug Geld für die 240 Familien in dem Lager von der kurdischen Regionalregierung in Erbil bekommen. "Aber wenn die Lage in Syrien sich weiter verschlechtert und noch mehr kommen, dann wird es knapp."
Die medizinische Versorgung für Akutfälle sei gegeben, doch wenn schwerere Krankheiten auftauchen, sei er machtlos, räumt Zadula ein. Auch die Krankenhäuser in den Kurdengebieten des Irak, seien für chronische Krankheitsfälle schlecht gewappnet. Beispielsweise könnten Krebserkrankungen kaum oder nur unzulänglich behandelt werden.
Birgit Svensson
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de