Eine neue Stufe der Eskalation
Der militärische Einmarsch der Türkei in den kurdisch kontrollierten nordsyrischen Kanton Afrin am 20. Januar unter dem Codenamen "Operation Olivenzweig" sollte eigentlich niemanden überraschen.
Zwar dient offenbar die diplomatisch ungeschickte Ankündigung der USA, bis zu 30.000 Mann der kurdisch geführten "Demokratischen Kräfte Syriens" (DKS) zu Grenzsoldaten auszubilden, den Türken als willkommene Rechtfertigung für ihre Invasion, aber tatsächlich sind die Vorbereitungen schon lange im Gange: Die türkische Regierung droht seit mehr als einem Jahr offen mit militärischen Aktionen in Afrin.
Unterstützt von der türkischen Luftwaffe und Artillerie drang die türkische Armee (ausgerüstet mit deutschen Leopard-2-Panzern) nun von fünf Punkten aus den türkischen Provinzen Kilis und Hatay nach Syrien vor.
Die gemeldete Zahl der Kämpfer der "Freien Syrischen Armee" (FSA), die die türkische Armee begleiten, ist zwar übertrieben, aber immerhin marschieren mehr als 3.000 syrische Milizionäre in den Reihen der türkischen Frontsoldaten mit. Diese Milizen werden ausschließlich im Dienste der türkischen Ziele eingesetzt. Was diese Kämpfer in erster Linie motiviert, ist der Wunsch nach Rache an der kurdisch-syrischen "Partei der Demokratischen Union" (PYD) und den "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) als deren militärischer Flügel.
Die PYD/YPG – von der Türkei zu Recht als syrischer Arm der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingestuft – hat bislang einen offenen Kampf mit den türkischen Truppen weitgehend vermieden und stattdessen auf taktische Rückzüge und Hinterhalte gesetzt.
Angesichts der fortschreitenden Invasion der türkischen Streitkräfte und der widersprüchlichen Rollen der internationalen Mächte steigt jedoch die Gefahr einer blutigen Eskalation des Konflikts beträchtlich.
Was hat die Türkei vor?
Die Interessenlage der Türkei ist klar. Mit dem Einmarsch in den Kanton Afrin kann sie strategisch wichtige PKK-Hochburgen nahe der türkischen Grenze angreifen, die starke Position der kurdischen Politik in Nordsyrien beschädigen und somit deren Chance auf einen eigenen syrisch-kurdischen Staat an der südlichen Grenze der Türkei zunichtemachen.
Diese Aspekte kommen der türkischen Regierung innenpolitisch entgegen. Während der frühere Einmarsch der Türkei in Syrien (Operation Euphrat-Schild in der Nähe von Dscharābulus im August 2016) als Kampagne gegen den IS dargestellt wurde, wird der Einmarsch in Afrin von nationalistischen Türken als offener Krieg mit der PKK gesehen – ein Krieg, den der türkische Staat in seiner kurdischen Provinz seit Jahrzehnten brutal führt. Darüber hinaus werden die syrisch-kurdischen Kräfte von der türkischen Regierung als Stellvertreter der geschmähten USA hingestellt.
Die langfristigen Ziele der Türkei sind jedoch unklar. Laut türkischen Regierungsvertretern will man eine 30 Kilometer lange Pufferzone entlang der südlichen Grenze als Bollwerk gegen den "Terrorismus" errichten. Auf einen solchen Puffer konnte man interessanterweise verzichten, als sich Al-Qaida bzw. der IS an derselben Grenze festgesetzt hatten.
"Die militärische Operation in Afrin zielt darauf ab, das Gebiet zu befreien, indem wir die mit PKK/YPG verbundene Verwaltung beseitigen, von der die örtliche Bevölkerung unterdrückt wird", sagte ein türkischer Offizieller.
Verbale Blendgranaten
Doch das sind wohl verbale Blendgranaten. Was immer die Türkei mit Afrin vorhat, Demokratie hat damit jedenfalls wenig zu tun.
Der Einmarsch in die Stadt Afrin, die mehrheitlich kurdisch ist, könnte sich für die türkischen Streitkräfte allerdings noch als ein schwieriges Unterfangen erweisen. Denn die PYD/YPG genießt erhebliche Unterstützung in Afrin. Die Region ist die am dichtesten besiedelte kurdische Region Syriens.
Die Türkei könnte stattdessen versuchen, die wenigen hauptsächlich arabischen Städte in der Umgebung von Afrin zu erobern, einschließlich Tel Rifaat. Anschließend wäre eine Belagerung Afrins denkbar, um die PYD/YPG zu einem Rückzug zu zwingen. Darüber hinaus könnte die Türkei versuchen, einen kleinen Korridor nach Osten zu öffnen, um die gegenwärtige Invasion mit den Landgewinnen aus der Operation Euphrat-Schild in der Gegend von Dscharābulus zu verbinden.
Möglich wäre für die Türkei auch, mit Russland und der syrischen Regierung ein Abkommen auszuhandeln, wonach die PYD/YPG die Kontrolle über die Stadt an das Assad-Regime abtritt. Angesichts der unverhohlenen Absicht der Türkei, einen zweiten, ähnlichen Vorstoß in Richtung der Stadt Manbidsch zu unternehmen, würde ein schneller Erfolg in Afrin als strategischer Sieg gewertet werden.
Die syrischen Kurden scheinen ihrerseits von den Vereinigten Staaten oder Frankreich Schutz vor einem türkischen Angriff erhofft zu haben, indem sie die Angelegenheit vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen brachten. Doch trotz früherer Solidaritätsbekundungen mit den syrischen Kurden hat keine der beiden Mächte bislang konkrete Maßnahmen ergriffen.
Doppeltes Spiel
Die syrischen Kurden rufen angesichts des Abtauchens ihrer westlichen Verbündeten vergeblich nach internationaler Solidarität mit ihrem Nation-Building-Projekt, das als radikale Form einer dezentralen Demokratie dargestellt wird. "Wir rufen alle demokratischen Kräfte und friedlichen Völker dazu auf, sich mit unserem Volk gegen brutale und unmenschliche Angriffe auf Afrin zu solidarisieren", schrieb die PYD in einer öffentlichen Erklärung.
In Wahrheit spielen die syrischen Kurden in der internationalen Diplomatie seit Langem ein doppeltes Spiel. Während sie in ihrem nordöstlichen Kanton Dschazira in der Nähe von Al-Hasaka direkt mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiten, haben sie gleichzeitig versucht, die USA und Russland gegeneinander auszuspielen, um im Kanton Afrin internationale Unterstützung zu erhalten.
Russland und das syrische Regime, das wie die Türkei durch die Ankündigung der USA, das syrisch-kurdische Militär als Grenzschutz einzusetzen, provoziert wurde, haben nun auch alle stillschweigenden Schutzmaßnahmen zurückgezogen, die den syrischen Kurden in der Vergangenheit gewährt wurden, wodurch das Feld für den türkischen Einmarsch frei wurde.
Als Folge stecken die syrischen Kurden in Afrin jetzt in einer Zwickmühle. Ein Rückzug aus Afrin wäre angesichts der undurchsichtigen US-Politik eine Demütigung, könnte aber letztlich eine autonome föderale Region im Nordosten Syriens sichern. Die Weigerung, Afrin abzutreten, würde bedeuten, allein gegen die türkischen Truppen kämpfen zu müssen und möglicherweise die Unterstützung der USA im Nordosten Syriens zu verlieren.
Mit dem Angriff auf Afrin will sich die Türkei nicht nur als feste Größe in Nordsyrien etablieren. Sie versucht auch, die Chance auf Entstehung eines kurdischen Machtzentrums zu zerstören – auch auf Kosten einer Stärkung des Assad-Regimes. Dass ein beträchtlicher Teil der syrischen Opposition den Angriff unterstützt, ist ein Armutszeugnis für deren Verfassung und kommt zur Unzeit.
Das Letzte, was im Syrienkonflikt benötigt wird, sind noch mehr Einflussnahme von außen und die Eröffnung einer weiteren Front. Der Vormarsch der Türkei gegen Afrin bedeutet beides. Wo es notwendig gewesen wäre, Druck auf alle Parteien auszuüben, um die Lage zu deeskalieren, ist es den Westmächten und Russland wieder einmal gelungen, eine gefährliche Eskalation zu befeuern.
Tom Stevenson
© Qantara.de 2018
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers