Beansprucht Erdoğan die Führung in der islamischen Welt?

Mit einem ambitionierten Moscheebauprogramm will der türkische Präsident sein Land ins Zentrum der muslimischen Welt rücken. Doch nicht nur dort. Während seines Staatsbesuchs im letzten Februar bei Raúl Castro warb Recep Tayyip Erdoğan für den Bau von gleich zwei Moscheen im sozialistischen Kuba. Einzelheiten von Dorian Jones

Von Dorian Jones

Das Moscheebauprojekt gilt als Teil einer umfassenderen Strategie: "Erdoğan legt großen Wert auf sein historisches Erbe und seine weltweite Hinterlassenschaft. Das verknüpft er mit seinen Ambitionen, den Islam zu fördern", behauptet Aslı Aydıntaşbaş, politische Kolumnistin der türkischen Zeitung "Milliyet". "Er will, dass die Türkei und er selbst international als Fürsprecher des Islam und der Muslime gesehen werden. Daher ist ihm das Moscheenbauprogramm in Kuba und in vielen anderen Ländern der Welt so wichtig."

Doch hinter diesem Ziel verbergen sich zweifelsohne imperiale Ansprüche. Die Anknüpfung der Türkei an die glorreiche Zeit des Osmanischen Reiches zieht sich seit jeher durch Erdoğans Rhetorik als Staatsmann der Türkei – ob als Ministerpräsident oder jetzt als Präsident. Das Osmanische Reich als Führungsmacht der islamischen Welt stellte seit 1453 die Kalifen und somit die geistlichen Führer der Muslime. 1924 schaffte Mustafa Kemal Atatürk, der Begründer der säkularen Türkei, das Kalifat ab, schickte den Kalifen ins Exil und richtete die Türkei konsequent an Europa aus.

Doch weite Teile des säkularen Establishments der Türkei sind heute eingeschüchtert. Mitglieder der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) stellen die fast 100jährige säkulare Geschichte der Türkei mittlerweile offen in Frage – oder lehnen diese sogar rundweg als geschichtlichen Irrweg ab. Die Rückkehr der Türkei ins Zentrum der muslimischen Welt passt daher perfekt in dieses Bild.

Erdogan (links) während seines Staatsbesuchs auf Kuba mit dem Präsidenten Raul Castro (rechts) im Februar 2015; Foto: picture-alliance/epa/A. Roque
Während seines Staatsbesuchs auf Kuba unterbreitete Erdogan dem Präsidenten Raul Castro seinen Vorschlag zum Moscheebau-Projekt in der kubanischen Hauptstadt Havanna, obwohl Kuba bereits mit Saudi Arabien über ein solches Vorhaben in Gesprächen ist.

Beschwörung des Goldenen Zeitalters unter osmanischer Führung

"In der AKP kursiert ein neuer Begriff: 'Medeniyetçilik' – das Goldene Zeitalter des Islam unter osmanischer Führung", erläutert Yüksel Taşkın, Politikwissenschaftler an der Universität Marmara. "Man beschwört damit den erneuten Aufschwung der islamischen Zivilisation. Und selbstverständlich soll das türkische Volk Vorreiter dieser Wiedergeburt sein. Dieser Anspruch gilt für die Türkei ebenso wie für die anderen muslimischen Staaten."

Das Moscheebauprogramm ist nur ein Teil einer Gesamtstrategie. So erfährt das Amt für religiöse Angelegenheiten in der Türkei ("Diyanet") unter Erdoğans Führung derzeit eine starke internationale Expansion. "Der Einfluss des Amtes nimmt seit 2005 insbesondere im Balkan und im Kaukasus zu, etwa in Mazedonien und in Albanien, vor allem aber in Bosnien", meint die türkische Religions- und Politikwissenschaftlerin İştar Gözaydın. "Wobei man sich in der Verklärung des osmanischen Erbes als 'älterer Bruder' dieser Länder betrachtet."

Der Wirtschaftsboom der Türkei seit der Jahrtausendwende hatte der Führung in Ankara die nötigen Gelder zur Unterstützung solcher Initiativen in die Kassen gespült. Neben dem Moscheebauprogramm ist die Förderung der theologischen Ausbildung zentraler Bestandteil dieser Strategie. So werden beispielsweise Stipendien an türkischen Hochschulen sowie Austauschprogramme finanziert.

Eine ähnliche Rolle in der muslimischen Welt spielt auch das türkische Präsidium für internationale Kooperation und Koordination (TİKA). Unter Erdoğan wurde das Budget des Präsidiums erheblich erhöht. Die Türkei liegt gegenwärtig weltweit auf Platz 4 in Hinblick auf die Vergabe humanitärer Hilfsgelder. Die Bedeutung der TİKA ist nicht zu unterschätzen: Hakan Fidan, ehemaliger Leiter der Behörde, wechselte von dort direkt auf den Chefsessel des türkischen Inlandsgeheimdienstes MİT. Im vergangenen Februar trat er zurück, um sich als Kandidat der AKP für die Parlamentswahlen aufstellen zu lassen.

Im Wettstreit mit Saudi-Arabien

Moschee in Istanbul Symbolbild; Foto. AP
Mythos "Medeniyetçilik": "Mit dem Begriff vom Goldenen Zeitalter beschwört man den erneuten Aufschwung der islamischen Zivilisation. Und selbstverständlich soll das türkische Volk Vorreiter dieser Wiedergeburt sein. Dieser Anspruch gilt für die Türkei ebenso wie für die anderen muslimischen Staaten", so Yüksel Taşkın, Politikwissenschaftler an der Universität Marmara.

Die Türkei sieht sich allerdings im Wettstreit mit anderen muslimischen Ländern, insbesondere mit Saudi-Arabien, das seit Jahrzehnten seine sprudelnden Gewinne aus dem Ölgeschäft nahezu konkurrenzlos in der islamischen Welt verteilen konnte. Doch die Zeiten ändern sich: Dem Ersuchen Saudi-Arabiens zum Bau einer Moschee auf Kuba folgte prompt ein ähnliches Angebot der Türkei.

Der eigentliche Machtkampf zwischen den Rivalen findet allerdings auf dem Balkan statt. "Zu Anfang führte man insbesondere in Bosnien einen Wettlauf um den Bau von Moscheen. Damit wollte man Einfluss auf die islamischen Gemeinden nehmen", erklärt İştar Gözaydın, Professorin für Politik- und Rechtswissenschaften an der Dogus-Universität in Istanbul. "Im Laufe der Zeit setzte man dann auf ein komplementäres Miteinander. Heute befinden sich beide Länder aber erneut im Wettstreit."

Diese neue Rivalität deckt sich zeitlich mit der unterschiedlichen Haltung beider Länder in Hinblick auf Ägypten. Ankara unterstützt den ehemaligen ägyptischen Präsidenten Muhammed Mursi, der vom Militär abgesetzt wurde und seither lautstark das derzeitige Staatsoberhaupt Abdel Fattah al-Sisi kritisiert, während Riad einer der Hauptfinanziers des neuen ägyptischen Regimes ist. Mit seiner vehementen Unterstützung der Muslimbruderschaft trägt Präsident Erdoğan zu den derzeitigen Spannungen mit den Saudis bei.

Schatten der kolonialen Vergangenheit

Neben der Rivalität mit Saudi-Arabien gibt es weitergehende, historisch bedingte Spannungen. Die herrschende Auffassung der AKP, dass die osmanische Vorherrschaft der Region ein Goldenes Zeitalter beschert habe, steht im deutlichen Kontrast zur Wahrnehmung dieser ehemals kolonialisierten Länder. "Die politische Elite um die AKP begreift nicht die kritische Distanz der Menschen im Nahen Osten zu ihrer kolonialen Vergangenheit", beobachtet Taşkın.

Männer, die vor der Et'hem Bey Moschee in Tirana (Albanien) beten; Foto: DW/Pani
Das Amt für religiöse Angelegenheiten in der Türkei („Diyanet“) hat bekannt gegeben, dass es die größte Moschee des Balkans in Tirana (Albanien) bauen wird. Die Größe der bereits existierenden Et'hem Bey Moschee sei nicht angemessen für die 300 000 Muslime in Tirana. Die neue Moschee soll 4500 Menschen Platz bieten.

Die Folgen des Arabischen Frühlings und die Unterstützung der Muslimbruderschaft durch Ankara gepaart mit der historischen Bürde als ehemalige Kolonialmacht im Nahen Osten könnte den Träumen von einer islamischen Führungsposition jedoch ein jähes Ende bereiten: "Aufgrund vieler außenpolitischer Fehlentscheidungen nach dem Arabischen Frühling genießt die Türkei keine große Popularität mehr – mit Ausnahme Palästinas vielleicht", so Taşkın.

Doch Präsident Erdoğan setzt möglicherweise auf die Sprache der Straße, um solche Hürden zu überwinden. Seine Reden scheinen sich zunehmend an einfache Muslime im In- und Ausland zu richten. Dabei verbindet er seine stark populistischen Untertöne mit einer ausgeprägt antiwestlichen Attitüde. "Glaubt mir, die westlichen Länder mögen uns nicht! Sie geben sich als Freunde aus, wollen aber unseren Tod. Sie wollen unsere Kinder sterben sehen", sagte er im letzten Dezember während einer Rede vor dem COMCEC ("Standing Committee for Economic and Commercial Cooperation of the Organization of Islamic Cooperation").

Derzeit macht sich der Präsident stark für einen ständigen Sitz eines muslimischen Landes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der Kampf gegen die "Islamophobie" ist ein weiteres Projekt, das er und seine Regierung beharrlich verfolgen. Manch einer geht davon aus, dass Präsident Erdoğan sich bereits am Ziel sieht. "Wenn es nach den Menschen ginge, so glaubt er, würde ihn die muslimische Welt in freien und fairen Wahlen als ihren Führer wählen. Und das glaubt er auch tatsächlich", meint Aslı Aydıntaşbaş.

Dorian Jones

© Qantara.de 2015

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers