Wir alle sind Kalifen!
Es hat, bezeugen uns glaubwürdige Historiker, tatsächlich einmal Kalifen gegeben, und der letzte von – wiewohl bescheidener – weltgeschichtlicher Bedeutung ist erst vor neunzig Jahren abgesetzt worden. Dennoch sind Kalifen immer auch Märchen- und Phantasiegestalten gewesen, nicht viel anders als Feen, Zauberer, Drachen und fliegende Teppiche. Wenn nämlich das Wort Kalif eine Aura hat, dann verdankt es diese nicht der historischen Wirklichkeit, die von Anfang an eine traurige war, sondern ist ein Produkt des Wunschdenkens – des politischen Wunschdenkens der Muslime, des orientalistischen und des westlichen Wunschdenkens.
Im wörtlichen Sinn heißt Kalif – arabisch „chalîfa“, mit einem ch-laut wie in „lachen“ – nichts anderes als „Nachfolger“ oder „Stellvertreter“. Die ersten Kalifen wurden so genannt, weil sie die spirituellen und zugleich politischen Nachfolger des Propheten in der Leitung des jungen islamischen Gemeinwesens waren.
Als Mohammed 632 starb, hatte er schlecht vorgesorgt. Der Koran war, sofern überhaupt notiert, eine ungeordnete, fragmentarisch anmutende Loseblattsammlung; ein Sohn, der das Kindesalter überlebt hätte und an seine Stelle hätte treten können, war ihm nicht vergönnt gewesen; und wer stattdessen sein Erbe schultern sollte, hatte er offengelassen.
Seine engsten Freunde bestimmten daher einen der ihren zum ersten „Nachfolger“ des Propheten. Er hieß Abu Bakr und regierte nur zwei Jahre, dann starb er. Abu Bakr und die drei nächsten Kalifen wurden von folgenden Generationen „rechtgeleitet“ genannt, weil sie angeblich im Sinne Mohammeds handelten, den sie, anders als die späteren, noch persönlich kannten.
Das goldene Zeitalter
Tatsächlich könnte man sagen, dass es ohne sie den Islam nicht gäbe. Nicht einmal der Koran wäre überliefert, wenn nicht der dritte Kalif, Uthman (im Türkischen Osman) zumindest teilweise damit begonnen hätte, das, was damals als Koran (wörtlich übersetzt mündliche „Rezitation“) kursierte, schriftlich niederzulegen.
Alle Fundamentalisten, Salafisten und sonstige religiösen Nostalgiker berufen sich bis heute auf dieses in ihren Augen Goldene Zeitalter und glauben, es wiederbeleben zu können, wenn sie sich nur so verhalten, wie es die Muslime zur Zeit der rechtgeleiteten Kalifen taten.
Zum großen Charme dieser Geschichtsfiktion trägt bei, dass diese Epoche dem Streit zwischen Sunniten und Schiiten vorausliegt. Genauer gesagt: Sie endete mit eben diesem Streit!
Wunder Punkt
Viele nicht-muslimische Beobachter vergessen heutzutage, dass der Islam für die meisten Muslime auch beinhaltet, an die Rechtleitung dieser ersten Kalifen zu glauben, ganz ähnlich wie für die Christen das Wirken der Apostel nach dem Tod Christi zur Heilsgeschichte dazugehört.
Aus der Perspektive des sachlichen Historikers ist dies jedoch ein wunder Punkt des Islams. Von den vier ersten Kalifen wurden drei ermordet, und ein Vorbild für die späteren scheinen sie oft nur in Bezug auf die gewaltsame Art ihres Todes gewesen zu sein. Es gelang ihnen zwar, den Islam weit über die arabische Halbinsel hinaus zu verbreiten, der inneren Spaltung konnten sie jedoch nicht Einhalt gebieten.
Noch bevor der Prophetenvetter Ali, der vierte und letzte der Rechtgeleiteten, im Jahr 661 ermordet wurde, hatte sein Konkurrent Mu‘awiya von Damaskus aus das Kalifat für sich reklamiert. Daraufhin kam es zu einem Bürgerkrieg (arabisch „Fitna“), den man als den längsten der Weltgeschichte erachten könnte: Er währt bis heute. Die Gefolgsleute Alis werden seit jener Zeit Schiiten genannt. Sie unterlagen im Kampf gegen die Truppen Mu’awiyas, konnten sich in vielen Gegenden Iraks und Irans jedoch halten.
Wenn der ISIS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi heute als Kalif vor allem gegen die Schiiten zu Felde ziehen will, die er für Ungläubige hält, erweckt er nicht das Goldene Zeitalter des Islams, sondern die Zeit der „Fitna“, des innerislamischen Bürgerkriegs. Er tritt weniger die Nachfolge des ersten Kalifen Abu Bakr an, dessen Namen er trägt, sondern Mu’awiyas, der übrigens der Stammvater der Kalifendynastie der Omayyaden ist.
Während nämlich zuvor der Kalif durch Beratung führender Persönlichkeiten bestimmt wurde, freilich unter der Bedingung, dass er wie der Prophet dem Stamm der Kuraish angehört, wurde das Kalifat mit Mu‘awiya dynastisch und in der Regel vom Vater auf den Sohn vererbt.
Kalifen und Gegenkalifen
Wenn bei uns das Wort „Kalif“ fällt, denkt man freilich weniger an die Frühzeit des Islams als an die Zeit der größten islamischen Blüte und Machtentfaltung, an die Kalifate der Omayyaden in Damaskus (661-749) und Cordoba (929-1031), das Kalifat der Abbasiden in Bagdad (749-1258) und der Fatimiden in Kairo (969-1171).
Einen solchen irgendwie märchenhaft anmutenden leiblichen Nachfolger der fatimidischen Kalifen kennt man heute noch: Es ist der Agha Khan. Wer aber eben gestutzt hat, stutzte zurecht: Ja, es gab um die Jahrtausendwende drei Kalifate parallel.
Das lag einerseits daran, dass der Kalif in Bagdad seinen Anspruch, der geistige und politische Führer über die islamische Welt zu sein, schon lange nicht mehr verwirklichen konnte und zu einer Marionette lokaler Machthaber und seiner Soldateska verkommen war. Zugleich aber hatte das Kalifat nach wie vor eine besondere Aura und kündete vom Anspruch auf die religiöse und politische Führung über die Muslime.
Die Zeiten des im Westen berühmtesten aller Kalifen, Harun Ar-Raschid (reg. 786-809), waren damals lange vorbei und versanken bereits in ein von Geschichtenerzählern aller Art mythisch verklärtes Dunkel.
Sollten dem ISIS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi nicht nur die Rechtgeleiteten Kalifen, sondern auch Harun Ar-Raschid als Vorbild vorschweben, so dürfen wir lachen. Sein Wesir – also der eigentliche Staatslenker – war ein nicht sehr sunnitischer Perser namens Djaafar al-Barmaki, und sein berühmtester Hofdichter war ein homosexueller, zu jeder Art von Gotteslästerung neigender Trunkenbold, Abu Nuwas. Nach ihm ist bis heute eine der berühmtesten Straßen Bagdads benannt.
1001 Nacht und historische Wirklichkeit
Glauben wir den Märchen von Tausendundeine Nacht, in denen das Dreiergespann Harun Ar-Raschid, der Wesir Djaafar al-Barmaki und Abu Nuwas zahlreiche Auftritte hat und welche die abendländische Vorstellung vom Kalifat mehr geprägt haben dürften als die realen Verhältnisse, war der berühmteste Kalif auch einer der ersten Herrscher, der es liebte, seine Untertanen auszuspionieren.
Dazu verkleidete er sich als Normalbürger, verließ seinen Palast und mischte sich unter das Volk, vorgeblich um zu sehen, ob alles in seinem Reich in Ordnung sei, tatsächlich aber auf der Jagd nach unterhaltsamen Geschichten. Es war die Zeit einer ersten islamischen Moderne, wie einer der Erben des Abu Nuwas, der 1930 geborene arabische Dichter Adonis sie genannt hat, die Zeit eines tabulosen geistigen und religiösen Aufbruchs, der für die Gestalt des Islams heute in Wahrheit viel prägender ist als die Zeit der Rechtgeleiteten Kalifen, deren tatsächliches Wirken historisch kaum objektiv zu greifen ist.
Dass es sich bei Harun Ar-Raschid anders verhält, verdankt sich nicht zuletzt einer unter seiner Herrschaft vollzogenen medialen Revolution: Im Jahr 800 wurde in Bagdad die erste arabische Papierfabrik gegründet. Das Papier hatten die Araber zwar schon fünfzig Jahre zuvor von chinesischen Kriegsgefangenen kennengelernt. Aber erst jetzt stand massenweise bezahlbares Schreibmaterial zur Verfügung.
Wie in keiner Kultur zuvor machen die Muslime Gebrauch davon, und erst jetzt wird der Wildwuchs der mündlichen Überlieferung gesammelt, systematisiert und geordnet: Das gilt für die arabische Grammatik ebenso wie für das islamische Recht und die Überlieferung der Taten und Sprüche des Propheten, dem sogenannten Hadith.
Die multikulturelle Wende
Ein anderes wichtiges Ingredienz kalifaler Blütezeiten ist im Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten. Der Aufschwung im Dichten, Denken und in Sachen Religion ist nur möglich gewesen, weil diese Kalifen – auch die andalusischen und fatimidischen – über multiethnische, multiregliöse, vielsprachige oder mit einem Wort multikulturelle Bevölkerungen geherrscht haben. Die erst 762 gegründete Stadt Bagdad wäre ohne Einwanderer nie eine Großstadt geworden. „Aus allen Ländern, fern und nah, kamen sie dorthin, und Leute aus allen Gegenden zogen es ihrer Heimat vor,“ schreibt der Geograph al-Ja’kubi im neunten Jahrhundert über Bagdad.
Der Streit, wer die besseren Muslime seien, diejenigen mit arabischen Vorfahren oder die Konvertiten aus anderen Ländern, die aus echter Überzeugung glauben und nicht aufgrund ihrer Herkunft, hat damals für viel Wirbel gesorgt.
In jener Zeit entstand ein genuin arabisches Wort für den Multikulturalismus, nämlich „Shu’ubiyya“. Indirekt unterminierte die „Shu’ubiyya“ nicht nur den Führungsanspruch der Araber, sondern auch des Kalifen, der ja von den Kuraish abstammen, also echter Araber sein sollte.
Damit kündigte sich ein Problem an, das heute stets virulent ist, wenn jemand beansprucht, für die Gesamtheit der Muslime zu sprechen: Haben die Araber, nur weil der Koran in ihrer Sprache abgefasst ist, einen genuineren Zugang zum Islam als Türken, Iraner, Afghanen, Indonesier und erst recht Konvertiten aus dem Westen? Wenn es aber schwer vorstellbar ist, dass die arabischen Muslime jemals einen Indonesier oder Iraner als ihren Kalifen akzeptieren, warum sollten dann die indonesischen oder iranischen Muslime einem arabischen Kalifen folgen?
Historischer Tiefpunkt
Ein weiterer Aspekt darf nicht unterschlagen werden: Sofern die Kalifen nämlich überhaupt weltliche Macht besaßen, herrschten sie immer auch über Angehörige anderer Religionen. Dazu zählten stets Christen und Juden, oft auch Zoroastrier, und ohne ihre Duldung, ja oft Einbeziehung in die Macht ist die Blütezeit der Kalifate nicht denkbar. Es waren Christen mit Kenntnissen der griechischen und syrischen Sprache, welche die antiken Philosophen und Mediziner ins Arabische übersetzten, und Anhänger iranischer Religionen, deren Muttersprache Persisch war, führten die Verwaltungstradition des Sassanidenreiches fort und formten das Arabische zu einer biegsamen Amtsprache und lingua franca eines Großreiches.
Mit ihren Söldner-Konvertiten aus aller Herren Länder ist auch die ISIS irgendwie multikulturell. Aber ihr Hass auf alles, was anders und andersgläubig ist, entlarvt ihre Kalifatsträume als wenig zukunftsfähig.
Man könnte freilich auch denken, dass das Kalifat irgendwann ein wenig zu ‚multi‘ geworden war, um mehr als ein paar Jahrhunderte ein ernstzunehmender Machtfaktor zu sein. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass irgendwann niemand mehr so recht glaubte, der Kalif sei wirklich ein Stellvertreter Mohammeds, selbst wenn in ihm noch das Blut der Kuraish floss. Zu viele Kalifen hatten sich als machtlos und unfähig erwiesen und die Aura des Amtes zerstört. Als die Mongolen 1258 Bagdad eroberten und den letzten Abbasiden ermordeten, war die Institution des Kalifats auf ihrem historischen Tiefpunkt angelangt.
Kalifat als Rettungsanker
Die Idee erfuhr jedoch eine Renaissance! Daran hat paradoxerweise Europa kräftigen Anteil. Im Laufe des 19. Jahrhunderts traten die europäischen Staaten zunehmend als Schutzmächte der Christen in muslimischen Ländern auf, besonders im Osmanischen Reich – ein bequemes Mittel, sich in die inneren Angelegenheiten dieser Länder einzumischen, ähnlich wie es heute Russland in der Ukraine bezüglich der ukrainischen Russen tut.
Dasselbe versuchten damals die Osmanen für die Muslime außerhalb ihres Machtbereichs geltend zu machen, vor allem in der Auseinandersetzung mit Russland, das zahlreiche muslimische Gebiete in sein Reich eingliederte. Der Weg dazu war die Wiederbelebung der Kalifatsidee.
Zwar wurde den osmanischen Sultanen häufig der Titel „Kalif“ beigesellt, offiziell beriefen sie sich jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert auf diesen Titel. Der aufkommende Panislamismus, der den Muslimen ihre religiöse Identität und Einheit jenseits konkreter politischer Machtverhältnisse vor Augen führen wollte, trug das seine zu dieser Renaissance bei.
Die Idee des Kalifats diente dem auseinanderfallenden Osmanischen Reich dann zunehmend als Rettungsanker: Wenn schon nicht machtpolitisch, sollte wenigstens religiös der Führungsanspruch manifestiert werden. Praktisch hatte dies wenig Auswirkungen, abgesehen davon, dass das Kalifat von islamischen Intellektuellen plötzlich überhaupt wieder diskutiert wurde (in seinem Buch „Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam“ erzählt Tilman Nagel diese Diskussionen ausführlich nach).
Abschaffung des Kalifats per Gesetz
Einer konnte damit jedoch definitiv nichts anfangen: Mustafa Kemal, genannt Atatürk. 1922 beschoss die türkische Nationalversammlung die Abschaffung des Sultanats, nicht aber des vom türkischen Staat unterhaltenen Kalifats, nun verstanden als rein geistliches Amt.
Vielleicht hätte sich daraus eine Art islamischer Vatikanstaat entwickeln können, und der Kalif wäre das geworden, was die Europäer immer schon darunter verstehen wollten, eine Art islamischer Papst. Aber Atatürk besann sich und erließ zwei Jahre später ein Gesetz, dass das Kalifat abschaffte. Es sei überflüssig geworden, weil Regierung und Republik ohnedies das einzig legitime Kalifat darstellten – eine denkbar forsche Umdeutung dieses traditionsreichen Amtes.
Da es seither niemanden und nichts mehr gibt, der einen Kalif ernennen könnte, müssen sich diejenigen, die dieses Amt bekleiden wollen, wohl oder übel selbst ernennen, sowie es jetzt Abu Bakr al-Baghdadi oder vor ein paar Jahren in Deutschland Metin Kaplan gemacht hat, der sogenannte Kalif von Köln.
Wer diesen selbsternannten Kalifen Gefolgschaft leisten soll und will, ist eine andere Frage, aber vielleicht erübrigt sich sie sich, wenn man das Wort Gottes nur richtig auslegt. Der Koran sagt im einhundertfünfundsechzigsten Vers der sechsten Sure ebenso wie in einigen weiteren, ähnlichen: „Er (Gott) ist es, der Euch (Menschen) zu Nachfolgern (Kalifen) auf Erden machte.“
Womöglich liegt darin die Keimzelle für eine islamische Begründung der Demokratie. Ob wir wollen oder nicht: Laut Koran sind wir alle Kalifen!
Stefan Weidner
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de