Der Kampf um was?
Die Attentate von Brüssel haben einen internationalen Aufschrei und eine Welle der Anteilnahme ausgelöst. Die Bilder gleichen im Rückblick dem tragischen Angriff auf das Satiremagazin Charlie Hebdo im Januar 2015 und dem Blutbad in Paris im vergangenen November.
Muslimische Würdenträger innerhalb und außerhalb Europas sowie Staats- und Regierungschefs weltweit – auch arabische – haben sich der Verurteilung der Terroranschläge angeschlossen und zur Solidarität aufgerufen.
Auch wenn unter den Opfern am Flughafen von Brüssel und in der Metrostation möglicherweise auch Muslime sind, so ändert dies nichts an der Tatsache, dass sich die mörderischen Schergen des IS selbst ebenfalls Muslime nennen.
Kulturalisierter Diskurs
Hier setzt eines der wesentlichen Argumente der rechtsaußen verorteten Populisten in Europa an. Sie werden die Debatte weiter verschieben in Richtung gescheiterter Integration, Kampf der Kulturen, der Islamisierung Europas und der Bedrohung europäischer "christlicher" Werte. Wir werden uns also auf eine Kulturalisierung des Diskurses zur terroristischen Bedrohung in Europa und der restlichen Welt einstellen müssen.
Im Bemühen um höhere Sicherheit werden westliche Staaten wahrscheinlich ihre militärischen Aktionen gegen den "Islamischen Staat" erneut verstärken, so als sei dieser die alleinige Ursache der Angriffe. Kurz gesagt: Die Risse in den europäischen Gesellschaften werden in den nächsten Wochen oder Monaten deutlicher werden, bedingt durch gegenseitige Entfremdung und Viktimisierung, verschärfte Sicherheitsmaßnahmen, den Aufstieg rechter Stimmungsmacher und das Festhalten an bekannten, aber letztlich erfolglosen militärischen Konzepten zur Bekämpfung des Terrorismus. Der IS hetzt die gesamte Welt mit willkürlichen Terrorangriffen auf. Und es scheint zu funktionieren.
Die Kultur der Täter steht häufig im Mittelpunkt bei der Suche nach Beweisen und Erklärungen. Kulturalisierung beherrscht die öffentliche Debatte solcher Themen, trotz der Tatsache, dass die jüngsten Terrorangriffe in Europa von Personen verübt wurden, die im Westen geboren und aufgewachsen sind.
Keine Überbewertung von Kultur und Religion
Wenn die Kulturalisierung des Diskurses zu allgemein bleibt, kommt die Religion ins Spiel – wobei Religion häufig synonym zu Kultur verstanden wird. Auch die Diskussionen über die Brüsseler Angriffe werden sich wieder der Islamisierung, der Integration, den Wertekonflikten usw. widmen. Sicherlich darf man die Rolle von Kultur und Religion nicht marginalisieren. Wer allerdings die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtbeziehungen analysieren will, sollte Kultur und Religion nicht überbewerten.
Die zunehmende Tendenz der Menschen, Schlussfolgerungen über Gesinnung, Charakter und Eigenschaften anderer Menschen anhand ihrer Handlungen zu ziehen, korreliert mit der Eskalation strittiger Praktiken. Wenn wir das Verhalten gruppenexterner Mitglieder beobachten, schließen wir tendenziell übereilt auf die Eigenschaften anderer und leiten daraus Erklärungen für deren Verhalten ab. Und doch handelt es sich dabei um einen "Wahrnehmungsfehler", der keine ausreichende Grundlage für eine zufriedenstellende Erklärung bildet.
Wahrnehmungsfehler verleiten uns dazu, Diskurse zu führen, die sich auf allgemeine Tendenzen zur Erklärung von Verhaltensweisen gruppeninterner Mitglieder stützen, wobei wir Ursachen in der Umgebung und im Kontext berücksichtigen. Dagegen erklären wir Verhaltensweisen bei gruppenexternen Mitgliedern direkt aus deren Eigenschaften heraus.
Die Kulturalisierung des Diskurses in Verbindung mit Halbwissen ebnet den Weg für Verallgemeinerungen und Stereotype, die auf das kollektiv Andere abzielen.
"Anstatt ethno-nationale Kulturen und Religionen als Trennlinien der Identität zu begreifen, sollten wir diese unbedingt als politisch eingebettete und historisch veränderliche Phänomene sehen", sagt Kira Kosnick, Professorin am Institut für Soziologie der Goethe Universität Frankfurt.
Negierungskontroverse
Ungerechtigkeit, Korruption und Chaos weltweit bilden die perfekte Brutstätte für Terrorismus. Terrorismus lässt sich nur dann wirksam bekämpfen, wenn westliche Länder und mehrheitlich muslimische Länder erkennen, dass das Problem vor allem in der religiösen und politischen Governance liegt. Bei jeder dieser verbrecherischen Terrorakte sind Muslime die ersten Opfer. Nicht nur im Westen, sondern auch in Westasien und in Nordafrika, wie im Irak, in Syrien und im Jemen. Doch ist das eine Negierungskontroverse und warum dient sie dem IS?
Auf einer ersten Negierungsebene stiften einige Islamprediger zu Gewalt an und verurteilen dann diejenigen, die gewalttätig handeln. Auf einer zweiten Negierungsebene treten arabische Regierungschefs für Redefreiheit und gegen Terrorismus und Extremismus im Westen ein, ohne sich in ihren eigenen Ländern daran zu halten. Auf einer dritten Negierungsebene gründen westliche Länder ihre Beziehungen zu Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika auf Sicherheit, Stabilität und wirtschaftliches Kalkül, sind aber blind gegenüber allen Gewalt- und Gräueltaten, die ihre autoritären Verbündeten begehen. Auf einer vierten Negierungsebene verfolgt der Westen eine unklare Linie bei langjährigen Konflikten im Herzen mehrheitlich muslimischer Länder, hat aber starke Beziehungen zu Staaten aufgebaut, die bekanntermaßen Extremismus und Sektiererei exportieren, wie Saudi-Arabien und der Iran.
Diese Kontroversen entstehen, wenn die Akteure das Leben der Menschen in der Region nicht verbessern können oder wollen. Extremistische Gruppen stoßen in diesen Strukturen auf fruchtbaren Boden für ihre Rekrutierungsmaßnahmen.
Lösungen im Zeitalter des IS
Lösungen zur Reformation des islamischen Denkens setzen den Willen der politischen und religiösen Führer voraus, jede zweckdienliche Instrumentalisierung der Religion zu unterlassen.
Das Problem ist nicht, dass sich Terroristen dem IS anschließen oder von diesem lernen. Die Frage ist vielmehr, warum sie sich überhaupt dem IS – oder sogar Al-Qaida – ursprünglich angeschlossen haben. Radikalisierung ist ein Prozess, der sich über mehrere Jahre herauskristallisiert. Nichts spricht dafür, dass Menschen sich radikalisieren, weil sie für drei Monate den IS aufsuchen. Hingegen spricht vieles dafür, dass diejenigen, die sich dem IS anschließen, schon vorher bereit waren, diese extremistische Ideologie aufzunehmen und zu verbreiten.
Neue Anhänger des IS oder jeder anderen Terrororganisation haben ihre radikalen Ansichten meist bereits in ihren Heimatländern entwickelt. Sei es in der Schule, zu Hause, aus religiösen Schriften, islamischen Exegesen oder religiösen Schulungen.
Wir alle wissen, dass die Angriffe in Brüssel und in anderen Städten der Welt die betroffenen Staaten nicht untergehen lassen. Dennoch haben diese Angriffe Konsequenzen. Sie vertiefen die Risse zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in den westlichen Gesellschaften trotz der Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime im Westen zu einer ernsthaften Zusammenarbeit bereit ist, um jegliche Risiken von ihren Heimatländern abzuwenden.
Eine zunehmende Entfremdung hilft dem IS dabei, die am stärksten marginalisierten und benachteiligten Menschen zu rekrutieren. Ihnen bietet der IS vor diesem Hintergrund die Illusion, Teil eines größeren Projekts im Namen Gottes zu sein.
Hakim Khatib
© Qantara.de 2016
Übersetzung aus dem Englischen von Peter Lammers
Hakim Khatib ist Dozent für Journalismus, interkulturelle Kommunikation sowie Politik und Kultur des Nahen Ostens an der Fulda-Universität für Angewandte Wissenschaften und der Phillips-Universität Marburg. Sein Spezialgebiet ist die Integration der Religion in das politische Leben und politische Diskurse im Nahen Osten. Er ist Chefredakteur des Online-Journals "Mashreq Politics and Culture" (MPC Journal).