Die Herzen für das Fremde öffnen
Der Vogel heißt Anderswo und kommt auch noch von anderswo. Schon das findet das Murmeltier höchst komisch, geradezu zum Totlachen. "Anderswo von anderswo", hat man so was schon gehört? Die Kinder kichern vergnügt. Aber nachdem das Murmeltier namens Murmel sich ordentlich lustig gemacht hat über diesen seltsamen, gelb gefiederten Vogel, der vor Kälte zittert und sich so fremd und verlassen fühlt im schneebedeckten Gebirge, hat es ein Erbarmen. Es lädt ihn ein zum Übernachten in seine Höhle, die von Glühwürmchen erwärmt wird. Wieder mal hat der Vogel Anderswo Glück im Unglück und einen Fluchthelfer auf der langen, beschwerlichen Reise von Damaskus nach Europa gefunden.
Von seiner abenteuerlichen Geschichte handelt ein Stück für Kinder ab vier Jahren, das derzeit (und noch bis Ende Mai) im Theater der Jungen Welt in Leipzig läuft. Gespielt wird es von Soubhi Shami (28), der selber ein syrischer Flüchtling ist. In Aleppo hat Shami geschauspielert, in Beirut das Puppenspiel gelernt und in seinen fast drei Jahren in Deutschland erstaunlich gut die neue Sprache – geradezu eine Idealbesetzung, um deutschen Kids die Flüchtlingsthematik näher zu bringen.
Brücken für mehr Verständnis bauen
Das jedenfalls dachte auch Theaterintendant Jürgen Zielinski, als er den jungen Syrer, der in Leipzig Medienkunst studiert, bei einem Workshop kennenlernte. Gerade hier in Sachsen, findet Zielinski, wo die rechtsnationale AfD bei den letzten Wahlen vielerorts 18 bis 27 Prozent holte, müssten doch Brücken für mehr Verständnis gebaut werden.
Zielinski wusste auch alsbald, wen er für den Brückenbau ebenfalls unbedingt anheuern müsse: Stephan Wolf-Schönburg, einen Schauspieler, der schon in seiner Jugend bedingt durch den Beruf des Vaters einige Jahre im Nahen Osten verbracht hat und der später eine Zeitlang am Freedom Theatre Jenin im Westjordanland als Schauspiellehrer tätig war. "Mach mir ein Flüchtlingsstück für Kinder", hat Zielinski ihm gesagt. "Du hast ja schon in Palästina gearbeitet."
Erst zögerte Wolf-Schönburg. „Ich hatte doch selber nie ein Stück geschrieben.“ Aber dann dachte er an seine eigene Kindheit, als er für den Bruder vor dem Einschlafen Geschichten ausgesponnen hatte. Das entpuppte sich als Inspirationsquelle bei der Herausforderung, sich in neuer Doppelrolle zu versuchen, als Autor und Regisseur. Entstanden ist ein Stück voller Poesie, das auf phantastische Weise an Lebenswirklichkeit anknüpft. "Mir ging es darum", sagt Wolf-Schönburg, "zu zeigen, was es bedeutet, wenn man von zuhause weg ist und mit dem eigenen Fremdsein konfrontiert wird."
Eine Welt aus Origami-Geschöpfen
Und so beginnt der "Der Vogel Anderswo" mit einem Sprachspiel. Unter lautem Trommeln tritt der Erzähler Soubhi Shami, gehüllt in einen kaftanähnlichen Mantel, einen schweren Koffer im Schlepptau, auf die Bühne, und redet munter auf das junge Publikum in Arabisch ein. Bis ihm plötzlich aufgeht, dass die Kinder vermutlich gar kein Arabisch verstehen. Aber das bringt er ihnen im Schnellkurs bei, die Begrüßungsformeln "Salaam" und "Marhaba", ebenso "Mabruk" – Glückwunsch – wie sie alle im Chor rufen, bevor er seine Geschichte aus dem Koffer zaubert.
Unglaublich, was da alles drinsteckt, eine ganze Welt aus kunstvoll gefalteten Origami-Geschöpfen, die Soubhi nach und nach zum Leben erweckt. Dazu jede Menge einfacher Requisiten, die sich in Wüste, Wind und Wogen verwandeln. Aber zunächst zieht Soubhi ein Bilderbuchbild der Stadt Damaskus hervor. Dort lebt Nunu, ein kleiner Junge, der einen freiheitsliebenden Vogel in einem offenen Käfig hat.
Weil der Vogel mehr unterwegs ist als daheim, hat er sich den Namen Anderswo eingehandelt. Doch eines Tags, als Anderswo von einem seiner Ausflüge zurückkehrt, ist die Familie weg. Geflohen, wie so viele Menschen, die auf den Straßen rennen. Denn es ist Krieg.
Auf sich alleine gestellt, macht sich Anderswo auf die Suche. Ohne eine Frau, die ihm in einer Oase zum Trost ein Lied singt, ohne den Storch, der ihn auf dem Weg übers weite Meer unter die Fittiche nimmt und natürlich ohne Murmel, bei dem er in den Alpen einen Unterschlupf findet, wäre er verloren.
Dank ihnen erreicht er irgendwann Deutschland und lässt sich erschöpft auf einem Kirchturm nieder, einen Platz, den ihm prompt eine freche Schar Krähen streitig macht. Zum Glück entpuppt sich deren Boss, Käptn Kräx, als Retter in der Not. Wie durch ein Wunder findet Anderswo schließlich auch seinen Freund Nunu wieder, der sein Lieblingsfutter, ein Apfelstückchen, aufs Fensterbrett gelegt hat. Ein Fall erfolgreicher Familienzusammenführung.
Nicht wieder Bilder vom Krieg
Die Kinder atmen auf. Gebannt haben sie bis dahin das Geschehen verfolgt. Was sie mit nach Hause nehmen? Vielleicht die Frage – und damit hätte die Vorstellung bereits ihren tieferen Sinn erfüllt –, wie es anderen wohl ergangen sein mag, die von anderswo kommen.
Autor Wolf-Schönburg drückt es so aus: "Mein Anliegen ist es, mit dem Stück die Herzen und den Geist der Kinder für das Fremde zu öffnen." Damit kann man schließlich gar nicht früh genug anfangen, gerade in Sachsen, einem Spitzenreiter bei ausländerfeindlichen Angriffen.
Mehrere Kitas haben bereits das Flüchtlingsstück gebucht, neulich ist Soubhi Shami damit sogar in einem Altersheim vor Senioren und Kindern aufgetreten. Über seine eigene Fluchtodyssee erzählt er weniger gern, auch nicht von seiner Familie, die teils in Syrien zurückblieb. Seine Erinnerung an den Krieg ist zu traumatisch, als dass er daran zu rühren wagte.
Schon deshalb hat er bei der Inszenierung darauf gedrungen, den Kriegsausbruch, als Vogel Anderswo von seinem Freund Nunu getrennt wird, nicht noch auszuschmücken. Und auch, weil er die Kinder nicht verängstigen möchte. "Das Thema ist traurig", sagt er, "da braucht man nicht noch Bilder vom Krieg."
Inge Günther
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