Ein Herz für "Beldis"
Am 15. August war es soweit. Ein Vertrag zwischen der Stadt Agadir und der Association le Coeur sur la Patte trat endlich in Kraft. Ein Vertrag, der ein historischer ist, der dem Martyrium marokkanischer Straßenhunde zumindest in Agadir ein Ende setzt. Wenn denn alles so läuft, wie geplant. "Capture, Neuter and Release" heißt das Konzept, das, von der WHO empfohlen und weltweit praktiziert, nun auch in Marokko Anwendung finden soll. Dann werden die Häscher umgeschult, die bisher mit Flinte und Strychnin Jagd auf Marokkos streunende Hunde machten. Und das schon seit Jahrzehnten, wenn auch ohne Erfolg. Denn noch immer zählt das Maghrebland zwei Millionen streunende Hunde. Etwa 200.000 werden Jahr für Jahr eliminiert – aus Angst vor der Tollwut.
Dies geschieht oft im Frühjahr, wenn die Touristen kommen. Oder wenn ein besonderes Event ansteht, wie etwa das Filmfestival von Marrakesch oder der Weltklimagipfel COP22 im kommenden November. Den Boykott dieses Gipfels hatten Marokkos Tierschützer schon im März verlangt, nach dem grausigen Massaker der Straßenhunde von Ksar el-Kebir in der Osterwoche.
Hunde im Todeskampf
Trotz des flammenden Appells von Aziza Nait Sibaha, Präsidentin des Tierschutzvereins Comme Chiens et Chats, und Nadia Daoudi-Amahzoun, Präsidentin der ASPHE Atlas, an den Gemeinderat Ksar el-Kebirs und an Marokkos Premier, wurde das "abattage administratif" fünf Nächte lang durchgezogen. Der Aufruhr in der Netzwelt war immens: Videos angeschossener Hunde im Todeskampf kursierten, Fotos von Halbstarken mit dem Gewehr in Siegerpose vor mit Kadavern übersäten Pick-ups.
Das alles soll nun bald der Vergangenheit angehören. Zumindest in Agadir. Dank der zweiten Bürgermeisterin der Stadt, Dr. Amal El Bakkali von der islamisch-konservativen Partei PJD. Ausgerechnet diese Partei? "Selbstverständlich", erklärt die Humanmedizinerin. "Tiere haben im Islam einen hohen Stellenwert. Einer Frau, die eine Katze eingesperrt hielt und verhungern ließ, wurde der Eingang zum Paradies verwehrt. Nichtsdestotrotz haben alle gelacht, als ich sagte, ich setze mich für die Straßenhunde ein."
Doch die Umweltbürgermeisterin, in deren Ressort auch das Management der streunenden Hunde und Katzen fällt, hat nicht locker gelassen, hat den Bürgermeister von Agadir und auch die Gouverneurin der Provinz Agadir – Souss – Massa – Draa überzeugt: "40 Jahre haben wir die Hunde mit Strychnin vergiftet. Es reicht."
Ein Refugium für Straßenhunde
Die treibende Kraft dahinter ist Michèle Augsburger. Nach einem Berufsleben in Zürich ist sie 2006 mit ihrem Schweizer Ehemann Jean-Pierre nach Agadir zurückgekehrt, im Gepäck zwei marokkanische Straßenhunde – "Beldis" genannt. Zu denen haben sich mittlerweile rund 150 weitere "Beldis" und streunende Katzen, Zwerghühner und Sittiche gesellt, denen sie auf ihrem Landgut unweit des Flughafens ein idyllisches Zuhause bieten.
Michèle selbst trifft man dort nur noch selten an. Mit ihrer blonden Löwenmähne und dem Temperament ihrer italienischen Mutter ist sie von früh bis spät unterwegs, um Pilotprojekte in Gang zu bringen, allen voran 2013 die Gründung des Tierschutzvereins Le Coeur sur la Patte.
"In meiner Kindheit in Agadir hat man sie einfach vergast", berichtet Michèle, während wir in ihrem weißen Geländefahrzeug die Küstenstraße hochbrettern, auf dem Rücksitz zwei aufgeregt zappelnde "Beldi"-Jungrüden, Nummer 2 und Nummer 15 – die ersten, die wir nach erfolgreicher Impfung und Sterilisation im Rahmen des Vertrags mit der Stadt Agadir in ihr angestammtes Revier zurückbringen, zum Strand von Anza.
"Ein halbes Jahrhundert lang tötet man hier schon die Straßenhunde – und es werden immer mehr!", sagt sie. "Eine Junghündin wird mit sechs Monaten läufig und wirft dann zehn bis zwölf Welpen. Es gibt nur einen Weg, das zu ändern und zugleich die Tollwut zu bannen: impfen und sterilisieren."
Und genau dafür setzt sich Michèle ein, beharrlich, diplomatisch, vehement, engagiert. Mit Hilfe zahlreicher Spender, allen voran der Schweizer Stiftung Tierbotschafter, neben der Fondation Brigitte Bardot und diverser Einzelevents, wie der Organisation eines Charity-Marathons im vergangenen April.
Die rund 200 behandelten Hunde mit den bunten, nummerierten Plastik-Ohrsteckern, die rund 300 Katzen mit den kupierten Ohren, die man seit 2011 in Agadir und Umgebung antrifft, stehen unter behördlichem Schutz und dürfen nicht mehr vergiftet werden. Die Anwohner, die aus Gewohnheit mit Steinen und Knüppeln nach den Hunden werfen, werden durch Flugblätter informiert.
Langsames Umdenken
Ohnehin setzt bei der marokkanischen Jugend langsam ein Umdenken ein. Das traurige Los des Straßenhundes Ray, der letztes Jahr mit ausgestochenen Augen, zusammengenähten Lefzen in Casablanca aufgefunden worden war, hat viele wachgerüttelt: In Casablanca kam es im Juni zur ersten Tierschutzdemonstration in der Geschichte des Landes, die Medien berichteten, die Tierschutzverbände rückten enger zusammen.
Es wimmelt von Facebook-Seiten, auf denen der Transport kranker streunender Tiere zum nächsten Tierarzt organisiert wird. Und es gibt einen aktuellen, höchst amüsanten Roman, aus der Feder des Literaturwissenschaftlers Abdellah Baïda, der dem ambivalenten Verhältnis des Marokkaners zum Hund nachspürt und im Land gerade Furore macht: "Nom d'un chien" (Rabat: Éditions Marsam 2016).
In Taghazout, dem Surferhotspot nördlich von Agadir, in dem 2014 die erste Capture, Neuter & Release-Aktion für Hunde lief, treffen sich mittlerweile Filmer und Fotografen aus aller Welt, um die anhänglichen Streuner mit dem melancholischen Blick und der aristokratischen Pose zu porträtieren. So auch Elke Vogelsang, eine namhafte Tierfotografin, oder der britische Videokünstler Russel Scott-Skinner. Ein internationales Biologinnen-Team der Universität Wien ist für sechs Monate nach Agadir gekommen, um unter Leitung von Martina Lazzarotti die kommunikative Kompetenz der "Beldi"-Hunde und ihr Bewegungsverhalten im Raum zu erforschen.
Derweil steckt das Projekt Haus der Tiere (Dar Imouddar) am Südrand Agadirs noch in den Anfängen. Rund 30 "Beldis" dösen in einem frisch umzäunten Areal vor sich hin, im spärlichen Schatten staubiger Sträucher. Ein frisch operierter Hund mit Halskrause lugt durch die Gitterstäbe eines Fensters. Einen Raum weiter sind zwei läufige Weibchen isoliert, in einem dritten ließe sich nach Meinung der Initiatoren ein OP-Raum einrichten. Das wäre günstiger, als die Hunde in den Kastenwägen der Häscher in die Tierarztpraxen und zurück zu karren.
Ein Tropfen auf den heißen Stein
Ohnehin sind nur zwei der vier Tierärzte Agadirs in das Projekt eingebunden – kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Dabei würde das von der Stadt Agadir bewilligte Budget von umgerechnet rund 40.000 Euro gewiss reichen, um binnen zwei Monaten 2.000 Tiere zu impfen und zu sterilisieren, so wie dies in Mumbai oder Thailand bereits praktiziert wird. Wenn man denn genügend Ärzte hätte, um die Streunerpopulation durch Sterilisation nachhaltig zu reduzieren ...
Noch sieht die Realität anders aus. Bis zu 300 streunende Hunde werden Monat für Monat in Agadir vergiftet – zum Entsetzen der Touristen, die sich zu allzu früher Stunde an den Strand verirren, wenn die Kadaver noch nicht eingesammelt sind. Strychnin in Hühnerköpfen oder Hühnerkrallen, das die Tiere innerlich zerreißt – das ist die billigste Lösung. Und die qualvollste.
Der humanen Lösung indes, einer effizienten Sterilisation im großen Stil, wie vom Worldwide Veterinary Service angeboten, und von Agadirs Umweltbürgermeisterin und der Association Le Coeur sur la Patte befürwortet, steht momentan noch das marokkanische Gesetz entgegen. Und der Verband marokkanischer Tierärzte, der das Operationsmonopol im Königreich hat.
Nur Mohammed VI., Marokkos König, oder die Gouverneurin der Provinz hätten die Macht, das zu ändern.
Regina Keil-Sagawe
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