Ich verpfeif Dich beim Berater!
Im Innenministerium macht man sich dieser Tage auf die Suche nach Vermissten. Tatsächlich vermissen die Sicherheitsbehörden ja so manches: verschlampte und geschredderte Akten zur NSU-Affäre, beispielsweise. Aber das ist damit nicht gemeint. Die "Vermissten", die man sucht, heißen Ahmed, Hassan und Fatima und Tim. Sie sind ihren Freunden abhanden gekommen, fremd geworden.
Allen vieren, den drei Migranten und dem deutschstämmigen Jungen, ist gemeinsam, dass sie nicht wirklich existieren. Sie sind die Fiktion irgendwelcher PR-Fuzzis, die sich eine schöne Kampagne ausgedacht haben: die Kampagne der "Beratungsstelle Radikalisierung" des Innenministeriums. Und allen vieren ist offenbar gemeinsam, das geht aus der kurzen "Vermisstenanzeige" hervor, dass sie in einen islamistischen Fundamentalismus abgerutscht, in die Fänge irgendwelcher radikaler Prediger geraten sind und eine tiefgreifende Wesensänderung durchgemacht haben, so dass ihre früheren Freunde sie plötzlich nicht mehr wiedererkennen.
Gegen diese Kampagne des Innenministeriums laufen jetzt nicht nur muslimische Organisationen und Einwanderervereinigungen Sturm, auch viele Integrationsbeauftragte und Beratungsstellen schütteln den Kopf: die Kampagne stigmatisiert, schürt Paranoia. Sie sollte, so die Forderung, eingestampft werden.
Nun mag ja eine solche "Beratungsstelle Radikalisierung" möglicherweise eine ganz prima Sache sein: Radikalisierung junger Menschen gibt es – sie geraten ins Fahrwasser militanter Islamisten (das kann Migranten betreffen oder auch deutschstämmigen Konvertiten), oder in das von Neonazi-Gruppen, sie können theoretisch auch in die Nähe linksradikaler Terrorgruppen driften (auch wenn solche gegenwärtig nicht sonderlich aktiv sind, ist das ja nicht für alle Zeiten auszuschließen). Und mit einer solchen Radikalisierung ist immer auch ein Charakterwandel verbunden, und die ersten, die seine Symptome wahrnehmen, sind wohl die nächsten Freunde und Angehörigen.
Oft sind sie ratlos. Reden ein auf die Betreffenden, fühlen sich hilflos. Schön, wenn sie sich mit ihrer Ratlosigkeit an Beratungsstellen wenden können. Ob es eine so gute Idee ist, die beim Innenministerium anzusiedeln, darf zwar gefragt werden – den Gesprächsfaden mit den Freunden, die "verloren zu gehen" drohen, wird es nicht wirklich retten, wenn man ihnen sagt, man habe ihretwegen bei der Polizei angerufen.
Mit zweierlei Maß
Aber selbst, wenn man das mal beiseite lässt, stellt sich die Frage: Was genau sagt es uns, dass in der Kampagne des Innenministeriums vor allem Muslime in die Fänge eines "religiösen Fundamentalismus" geraten? Beim deutschstämmigen Tim wird das offen gelassen, aber die Assoziation ist doch recht naheliegend, dass auch er, zum Islam konvertiert, in Fundamentalistengruppen geraten ist. Klar, er könnte natürlich auch zu irgendwelchen evangelikalen Erweckungsfrömmlern abdriften, doch diese Möglichkeit wird wohl kein Betrachter in Erwägung ziehen.
Und das ist alleine schon ein starkes Stück: In dieser Kampagne kommt Radikalisierung nur in ihrer islamistischen Spielart vor, die aktuell wohl viel gefährlicheren Neonazi-Milieus und die Islamhasser Breivikscher Art, die sich etwa im Internet auf erschreckende Weise breitgemacht haben, werden dagegen überhaupt nicht angesprochen.
Aber natürlich wäre die Kampagne um nichts besser, wenn sie gewissermaßen "ausgewogener" wäre, wenn alle Radikalismen mit einem Poster vertreten wären. Denn im Fall der Neonazis oder radikalen Islamhasser ist es so, dass relativ leicht feststellbar ist, wann jemand eine radikale Gesinnung hat: dann nämlich, wenn er ihr zustimmt, sie äußert. Niemand steht unter Generalverdacht, ein Breivik-Fan zu sein, nur weil er blond ist.
Im Fall der Muslime ist das aber anders. Das zeigt schon das Bild der vermissten Fatima, eine Frau, die ein Kopftuch trägt. Wer ein Kopftuch trägt, ist also schon verdächtig, eine gefährliche Radikale zu sein. Und wenn man jetzt im Innenministerium darauf hinweist, dass das doch keineswegs gemeint ist, dann kann man darauf nur erwidern: Das ist schön, aber leider irrelevant – denn genau so wird es verstanden. Von den Muslimen, die das empört. Und von manchen Durchschnittsdeutschen, die ohnehin nichts anderes annehmen. Die Kampagne trägt also zur grassierenden Paranoia vor "den Muslimen" bei – und schürt damit, was sie bekämpfen will, Radikalisierung nämlich.
Hinzu kommt, dass der Radikalismusbegriff in Hinblick auf den Islam äußerst unscharf ist. Was ist damit gemeint? Irgendwelche Dschihad-Anhänger oder al-Qaida-Fans, die tatsächlich Gewalt anhängen? Oder ist damit schon jeder gemeint, der sich religiöser Frömmlerei verschreibt? Gewiss kann man mit gutem Recht auch religiöse Frömmlerei ablehnen.
Unverhohlene Gesinnungsschnüfflerei
Wer sein Leben einem Gott verschreibt, nur mehr Bibel, Koran oder andere "heilige Schriften" liest, wer die weltliche Welt ablehnt und für "niedrig" hält und einer puritanischen Moral anhängt, wer glaubt, dass Allah den Koran Mohammed buchstäblich diktiert hat, oder wer glaubt, dass Jesus demnächst wiederkehrt, wer versucht, seine Umgebung mit all diesem vormodernen religiösen Klimbim zu missionieren, den kann man vom Standpunkt einer säkularen Position (der auch der Autor dieser Zeilen anhängt), durchaus kritisieren, und man muss es sogar. Nur – solange so jemand nicht der Gewalt anhängt, ist er kein Fall für die Polizei.
Die Kampagne des Innenministeriums aber ruft unverhohlen zur Gesinnungsschnüfflerei auf. Wer "Anzeichen" zeigt, in eine religiöse Phantasiewelt abzudriften und niemand mehr an sich heran lässt, der soll gemeldet werden. Was der jeweilige Beobachter aber als "Anzeichen" ansieht, kann natürlich variieren. Und ist nicht derjenige besonders "aufmerksam", der noch die kleinsten Indizien registriert?
Man will sich eine Gesellschaft gar nicht vorstellen, in der eine solche Kampagne "Erfolg" hat – eine Gesellschaft, in der Freunde ihre Freunde aushorchen und, sobald sie ein, zwei "Indizien" registrieren und zur Beratungsstelle der Polizei laufen. Das ist der Geist der Stasi, gepaart mit dem zeitgenössischen Psychojargon: Ohren auf und zum "Berater" gelaufen.
Robert Misik
© Qantara.de 2012
Robert Misik lebt als freier Publizist in Wien und schreibt für "Die Tageszeitung" (taz), den "Falter" und "Profil". Zuletzt erschien sein Buch "Politik der Paranoia. Gegen die neuen Konservativen" im Aufbau-Verlag.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de