Die Ungewissheit der Freiheit

Anhänger der Opposition tragen am Dienstag, dem 10. Dezember 2024, auf dem Al-Hamidiyeh-Markt in der von einer Stadtmauer umgebenen Altstadt von Damaskus, Syrien, Fahnen der Opposition.(Foto: picture alliance / AP| Hussein Malla)
Neue Flagge vor alten Nationalfarben: Hamidiyeh-Souk in Damaskus am Dienstag, 10.12.2024 (Foto: picture alliance / AP | H. Malla)

Zu Besuch im Folterkeller des Assad-Regimes, bei Kalaschnikow schwingenden Rebellen und einem ängstlichen Erzbischof. Karim El-Gawhary berichtet aus dem „neuen Syrien“. Eine historische Momentaufnahme.

Von Karim El-Gawhary

Das Tor zur ehemaligen Folterzentrale steht weit offen. Davor wachen zwei Rebellenkämpfer, die freundlich einladen, das Innere zu besichtigen. Ich zögere. Von meinen letzten Besuchen in Damaskus erinnere ich mich an dieses Gebäude im Stadtzentrum – das Hauptquartier des Luftwaffengeheimdienstes, einem von sieben internen Geheimdiensten des Assad-Regimes. Dieser Ort war ein Synonym für Angst und Schrecken. Niemand sprach darüber, als gäbe es diesen Ort nicht.

Nun liegt der Innenhof voller verstreuter Dokumente. Die meisten sind Kopien von Personalausweisen derjenigen, die hier gefangen gehalten und gefoltert wurden. Einige der Opfer hatten das Teenageralter kaum überschritten. Erst vor wenigen Tagen, nach dem Sturz des Assad-Regimes am vergangenen Wochenende, wurden die Überlebenden freigelassen.

Abu Wissam, einer der neuen Wächter, wirft seine Kalaschnikow über den Rücken und führt mich ins Innere des Gebäudes. Der Geruch von Verwesung hängt in der Luft. In einer Ecke stehen Foltergeräte, achtlos wie in einer Rumpelkammer abgestellt: Eisengitter, an denen Menschen kopfüber aufgehängt wurden, ein grünes Plastikrohr, mit dem die Gefangenen geschlagen wurden, und undefinierbare Metallgestelle und Haken, mit denen die Opfer in unnatürliche Haltungen gezwungen wurden. In einer Ecke liegt ein blutiges T-Shirt.

„Das ist der Kerzenstuhl“, erklärt Abu Wissam und zeigt auf ein Stuhlgestell, bei dem die Sitzfläche fehlt. Unter den Gefangenen, die darauf Platz nehmen mussten, wurde eine Kerze angezündet.

Im Büro der Wächter entdecke ich einen Zettel mit einer Notiz, offenbar von einem der ehemaligen Folterer geschrieben: „Das größte Geschenk, das das Leben zu bieten hat, ist der Tod“, steht darauf in schöner arabischer Handschrift geschrieben. Hat er das auch den Gepeinigten gesagt, um ihnen endgültig den Mut zu nehmen? 

Eine Frau steht vor einer Wand, ander Bilder von Leichen aus dem Sednaya Gefängnis aufgehängt sind.
Viele suchen verzweifelt nach Hinweisen auf ihre Angehörigen - hier unter den Fotos von Leichen, die aus dem Sednaya-Gefängnis stammen. Das Krankenhaus, in dem sie gelagert werden, will Familien so helfen, ihre Angehörigen angemessen zu bestatten. (Foto: Picture Alliance / Middle East Images | N. Chahine)

Zu den Zellen geht es in den Keller. „Die sind bei allen Geheimdienstgebäuden immer im Untergeschoss“, erklärt Abu Wissam, der mit der Taschenlampe seines Handys vorausgeht. Es gibt keinen Strom. Wer hier unten eingesperrt war, hat niemals Sonnenlicht gesehen. Weggesperrt „hinter der Sonne“, wie es auf Arabisch heißt. Über hunderttausend Menschen verschwanden unter dem Assad-Regime, viele für immer.   

Abu Wissam leuchtet auf eine getrocknete Blutlache am Boden und zeigt die winzigen Zellen, in denen die Menschen zu Dutzenden weggepfercht waren. Viele haben ihren Namen an den Wänden verewigt. Einer hat ein Gedicht für seine Mutter geschrieben: „Meine Mutter ist mein Paradis“.

Man möchte das alles nach einem Besuch von sich abwaschen, die Erinnerung an diesen Ort vergessen. Aber für alle, die hier traumatisiert wurden, und auch für die vielen Angehörigen, die in diesen Zellen ihre Liebsten verloren haben, bleibt eine große offene Rechnung. 

Werden jene, die hier verhört, gefoltert und gepeinigt haben, die die Befehle dafür gegeben haben, jene die dieses System der Unterdrückung aufgebaut haben, jemals zur Rechenschaft gezogen? 

Die Freiheit beginnt mit der Öffnung der Zellen, die Gerechtigkeit damit, die Peiniger nicht davonkommen zu lassen. Doch was wollen die neuen Machthaber, die meist islamistischen Rebellengruppen, die innerhalb von nur zehn Tagen das implodierte System Assad übernommen haben?

Ein islamisches Syrien

Vor einem der alten Offiziersclubs im Zentrum von Damaskus, direkt neben dem ehemaligen Militärhauptquartier, ist ein halbes Dutzend Rebellenkämpfer stationiert. Sie gehören der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) an, der größten Rebellengruppe. Stolz zeigen sie ihren Jeep mit aufmontiertem Granatwerfer, mit dem sie vor wenigen Tagen aus der nördlichen Provinz Idlib bis in die Hauptstadt gefahren sind.

Der Granatwerfer sei kaum zum Einsatz gekommen, erzählen sie. Das Regime und seine Truppen hätten sich praktisch vor ihren Augen aufgelöst. „Wir waren selbst überrascht, wie schnell es ging. Aber das zeigt, wie schwach das Regime war“, meint einer.

Aus dem Offiziersclub haben sie ein paar Sofas nach draußen geholt und um eine Feuerstelle herum aufgestellt. Einer der Kämpfer nimmt einen Bilderrahmen mit den Resten eines Porträts von Baschar al-Assad, zerbricht ihn in kleine Stücke und wirft diese ins Feuer. Die Überreste des Diktators als Brennholz fürs Teekochen.

Die jungen Männer stammen aus einfachen Verhältnissen und haben wenig Bildung genossen. Der älteste unter ihnen ist Khaled, ein 32-Jähriger, der jedoch vom Leben gezeichnet aussieht wie Mitte 40. Vor 13 Jahren flüchtete er von Homs vor den Truppen des Regimes nach Idlib, stand dort vor dem Nichts und schloss sich schließlich den Rebellen an.

Was für eine Art neues Syrien stellen sie sich vor?, frage ich. 

Es müsse ein islamisches Syrien sein, antworten sie. 

Aber was ist mit den unterschiedlichen Religionsgruppen wie Christen und anderen Minderheiten? 

„Man wird gut mit ihnen umgehen, sie beschützen. Sie sind in Sicherheit“, versichern sie. Alle wollten eine funktionierende Regierung, Meinungsfreiheit und Wahlen, sagen sie. 

Doch was, wenn die Mehrheit einen säkularen Staat mit Trennung von Staat und Religion wolle?, hake ich nach. 

Sie schütteln den Kopf. Das könnten sie auf keinen Fall akzeptieren. Assad sei schließlich auch ein säkularer Diktator gewesen.

Eine Gruppe Männer sitzt um eine Feuerstelle und trinkt Tee.
Karim El-Gawhary beim Tee mit Rebellen in Damaskus: Wie stellen sie sich das neue Syrien vor? (Foto: Privat)

Ein Offizier kommt hinzu, der sich Abu Obeida nennt. Seine Aufgabe sei es, sicherzustellen, dass sich die Truppen islamisch korrekt verhalten. Mit langem Bart und nach afghanischer Mode gekleidet, wirkt er wie ein klassischer radikaler Islamist.

Ob er das alte Regime zur Rechenschaft ziehen will? 

„Wir haben allen Soldaten, die ihren Militärdienst leisten mussten und die Waffen abgelegt haben, Sicherheit garantiert. Aber bei Beschwerden über Menschen, die gefoltert, verhört oder getötet haben, wird es Konsequenzen geben.“

Doch wie wollen die neuen Machthaber das umsetzen – mit Richtern, die bislang nach dem Willen des Regimes geurteilt haben, und einem Staatsapparat, der vollständig auf das alte Regime zugeschnitten ist? 

„Wir haben qualifizierte Leute und Spezialisten aus Idlib. Aber jetzt brauchen wir welche für alle Orte Syriens. Das erfordert Organisation. Hoffentlich dauert das nicht zu lange.“

Auch Abu Obeida betont, dass er ein islamisches Syrien wolle. Auf die Frage, was für einen Staat er sich vorstellt, bleibt er jedoch vage: 

„Der Begriff Islamisten, mit dem sie uns bezeichnen, ist ein konstruierter Begriff. Wir sind Muslime. Wir wollen niemandem etwas aufzwingen, niemanden dominieren oder unterdrücken.“

Ob solche Worte die Minderheiten im Land, wie die Christen, beruhigen können?

 „Niemand kann sich einer ganzen Nation aufzwingen – keine Religion, keine islamische Gemeinschaft. Am Ende werden die Menschen bestimmen, wer sie regieren soll“, sagt er und lädt zu einem weiteren Tee ein.

Es ist eine merkwürdige Mischung aus Freiheitsgedanken, geboren aus der Stunde, in der der Diktator endlich gestürzt wurde, und ihrem islamistischen Hintergrund, der mit jedem Tag ihrer Herrschaft wohl mehr in den Vordergrund rücken wird. 

Christen reden mit den Islamisten

Im Viertel Bab Touma in der Damaszener Altstadt leben vorwiegend Christen. Wenige Tage nach dem Sturz Assads ist hier eine Art Normalität eingekehrt: Die Geschäfte haben geöffnet, und die Menschen spazieren durch die Gassen. Hier befindet sich auch der Sitz der armenisch-katholischen Kirche.

Erzbischof George Asadorian beschreibt die Lage mit gemischten Gefühlen: „Veränderung geht immer mit Ängsten einher“, sagt er vorsichtig. Immer wenn es im Nahen Osten Veränderungen gegeben habe – ob im Irak, in Libyen oder in Ägypten – seien Christen angegriffen worden. „Die neuen Machthaber haben keine terroristische Agenda, aber sie haben einen extrem radikalen Hintergrund, und das macht uns Angst“, erklärt er.

Portrait von armenischem Bischof in schwarzer Kutte und Kreuzkette.
Der armenisch-katholische Erzbischof Georges Asadorian bleibt vorsichtig. Auch für ihn wird viel von der Ausrichtung des neuen Syriens abhängen. (Foto: Picture Alliance / Middle East Images | N. Chahine)

Trotzdem berichtet der Erzbischof von mehreren Treffen zwischen christlichen Oberhäuptern und Vertretern der HTS. „Sie haben uns versichert, dass alles besser wird und wir keine Angst haben sollten. Die Botschaft, die sie uns immer wieder schicken, lautet: Habt keine Angst“, fasst Asadorian die Gespräche zusammen.

Die Nationale Koalition und die Freie Syrische Armee hätten erklärt, sie würden sogar über einen säkularen Staat nachdenken, also eine Trennung zwischen Staat und Religion. „Das ist genau das, was wir wollen. Ein Land für alle seine Menschen. Religiöse Differenzen trennen, Säkularismus vereint. Sie haben uns versprochen, dass sie an einem Land arbeiten, in dem alle ein Zuhause haben“, sagt Asadorian.

Plötzlich ist eine Salve aus einem Schnellfeuergewehr zu hören, irgendwo in einer der Gassen der Altstadt – eine kurze Erinnerung daran, dass die Lage noch nicht stabil ist. „Hörst du die Schüsse? Das ist nicht ermutigend“, wirft der Erzbischof ein. „Aber wir sollten abwarten.“ Er könne den Menschen, die aus dem Land geflüchtet sind, noch nicht guten Gewissens sagen, alles sei in Ordnung, und sie sollten zurückkehren. „Wir warten ab und bieten unsere Kooperation an, um ein besseres Syrien für alle zu schaffen. Wir müssen zusammenarbeiten für den Frieden in Syrien.“

Später fährt ein Autokorso mit jungen Leuten hupend, singend und jubelnd durch die Innenstadt. Sie feiern die neue Freiheit, während die bärtigen neuen Machthaber, die Kalaschnikow über der Schulter, den Jugendlichen zuwinken und mittanzen. Gleichzeitig sind israelische Kampfjets am Himmel zu hören, gefolgt von einer Explosion in der Ferne, bei der eine weitere syrische Militäranlage in Flammen aufgeht. All das ist eine Momentaufnahme des neuen Syrien.

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